
Neues Rechtsinformationssystem entsteht
Moderne Software-Entwicklung in der Verwaltung
Das Rechtssystem in Deutschland ist mit seiner Vielzahl an Gesetzen, Verordnungen und Gerichtsentscheidungen komplex. Es gibt zahlreiche Baustellen: So dokumentieren beispielsweise Länder und Bund Urteile nicht einheitlich. Selbst Jurist:innen wenden einen signifikanten Teil ihrer wertvollen und knapp bemessenen Zeit auf, um die diversen Quellen - beispielsweise die drei bekannten Bundesportale - zu durchforsten. Das Vorhaben „NeuRIS“ ist der Spatenstich, um diese Komplexitäten schrittweise aufzulösen.
In diesem Beitrag geht es um das Ziel des Projekts, den aktuellen Stand der Entwicklung samt Fortschritten und Herausforderungen sowie die spezielle Arbeitsweise, mit der das interdisziplinäre Team Erfolg hat.

Projekt mit zwei Komponenten
Das Gesamtvorhaben „NeuRIS“ besteht aus zwei zentralen Komponenten: einer bundeseigenen Erfassungsumgebung und Datenhaltung und einem Rechtsinformationsportal für die Allgemeinheit. Erstellt wird es seit April 2022 in Kooperation des DigitalService, der zentralen Digitalisierungseinheit des Bundes, zusammen mit dem Bundesministerium der Justiz (BMJ) und dem Bundesamt für Justiz (BfJ). Das Ziel ist es, bis Ende der Legislaturperiode das zentrale Portal aufzubauen, das die bestehenden Portale auf Bundesebene ablöst und den Ansprüchen von Zivilgesellschaft, Jurist:innen, Wissenschaft, Legal-Tech-Unternehmen sowie Verlagen etc. besser gerecht wird. Mit der Entwicklung des Portals erfüllt das BMJ unter anderem Vorgaben aus dem Datennutzungsgesetz. Dieses setzt die Open-Data-Richtlinie der Europäischen Union um, welche die Veröffentlichung dynamischer Daten und die Schaffung von Datenschnittstellen (APIs) fördern soll.
Voraussetzung hierfür ist allerdings die Erneuerung und Modernisierung der bundeseigenen Datenhaltung und Erfassungsumgebung. Hierfür entwickelt das Team aktuell das neue Rechtsinformationssystem. Das Rechtsinformationssystem dient als Backend und soll den Dokumentationsstellen des Bundes – dem Bundesverfassungsgericht, den obersten Gerichtshöfen, dem Bundespatentgericht, dem Oberverwaltungsgericht des Landes Nordrhein-Westfalen sowie der Normendokumentation – ermöglichen, Rechtsinformationen effizient bereitzustellen. Die Auffindbarkeit und Verknüpfung der Rechtsinformationen untereinander spielt dabei eine große und entscheidende Rolle für die Transparenz unseres Rechtssystems. Das Gesamtvorhaben NeuRIS ist damit ganz im Sinne der Open-Data-Strategie der Bundesregierung.
Komplexität
Das Vorhaben ist komplex. Zu den Rechtsinformationen gehören Urteile und Beschlüsse, Gesetze, Verordnungen, Verwaltungsvorschriften, aber auch dokumentierte selbstständige und unselbstständige juristische Literatur. Diese Daten weisen einen hohen Verknüpfungsgrad auf. Die Nutzenden der Plattformen sind dabei vielfältig und haben unterschiedliche Ansprüche an eine gelungene Umgebung. So muss das System sowohl die Dokumentation von Rechtsinformationen für die Dokumentationsstellen ermöglichen als auch als Quelle für Bundesrichter:innen, Richter:innen und Mitarbeitende von Kanzleien und Gerichten dienen. Mit dem Frontend – dem Rechtsinformationsportal – kommen weitere, vielfältige Zielgruppen hinzu: Neben Legal-Tech-Unternehmen, die sich für digitale Geschäftsmodelle und Lösungen für den Rechtsmarkt einsetzen, gehört nicht zuletzt die Allgemeinheit zum Nutzerkreis.
Das Vorhaben ist auch deshalb komplex, weil bestehende Systeme abgelöst werden müssen, an deren Benutzung die Mitarbeitenden in den Dokumentationsstellen gewöhnt sind.
Auch der Dokumentationsprozess selbst ist in Teilen sehr komplex. Dokumentation im Kontext von Rechtsinformationen ist kein einfaches Digitalisieren von Text, sondern das Anreichern der Dokumentationseinheiten mit guten Metainformationen, wie z. B. dem Verlinken der Rechtsinformationen untereinander (Aktiv-/Passivzitierungen) oder das Bilden von Orientierungssätzen bei Urteilen. Im Bereich der Gesetzestexte spielt die akribische Nachvollziehbarkeit von Änderungen in Gesetzen eine große Rolle. All diese Aspekte müssen in einer guten Dokumentationsumgebung berücksichtigt werden.
Interdisziplinäre Teams: Wie gearbeitet wird
Eine Besonderheit im Vergleich mit anderen Digitalisierungsprojekten der öffentlichen Hand ist, dass von Beginn an in einem interdisziplinären Team und mit Methoden der agilen Software-Entwicklung gearbeitet wird. Im Entwicklungsteam sind daher Produktmanager:innen, Designer:innen und Software-Entwickler:innen vertreten – gemeinsam mit Expert:innen aus den Ministerien und Nutzenden aus den Dokumentationsstellen. Denn bei der Schaffung der technischen Grundlagen für eine bundeseigene Datenhaltung ist vor allem die Miteinbeziehung der Dokumentationsstellen entscheidend. Deren Mitarbeiter:innen sind die wesentlichen Nutzer:innen dieser Lösung. Sie erwarten ein hocheffizientes System zur Pflege der Rechtsinformationen.
Da sich das Rechtsinformationsportal für die Zivilgesellschaft aus der Dokumentationsumgebung speisen wird, wurde deren Entwicklung zuerst angegangen. In enger Abstimmung mit den involvierten Dokumentationsstellen am Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe haben wir den Umfang eines sogenannten Minimum Viable Product (MVP – minimal nutzbares Produkt) festgelegt. Das bedeutet, dass wir zunächst ein System in Betrieb nehmen, das noch nicht alle geforderten Funktionen beinhaltet, aber bereits einige zentrale Funktionen möglich macht. So erfüllen wir den Anspruch, in schnellen Iterationen Produktversionen zu erzeugen, die einen frühen Nutzen erzielen, die etwas besser machen als die alte Lösung.

In regelmäßigen hybriden Meetings bespricht sich das NeuRIS Team zum aktuellen Arbeitsstand.
Iterative Entwicklung
Das MVP wird bereits die Datenhaltung und Dokumentationsumgebung im Bereich Rechtsprechung umfassen, mit dem Schwerpunkt Dokumentation der hauseigenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs. Außerdem ist die Migration vorhandener Daten im MVP bewerkstelligt. Diese Migration ist ein großer Aufwand: Es gilt, die Mengen an bereits bestehenden Daten aus dem Altsystem in das neue System zu übernehmen. Herausforderungen bestehen in dem Wechsel der Datenhaltungstechnologien und der veränderten Ablagestrukturen. Manchmal sind Daten zu interpretieren, bevor sie migriert werden. Ein Beispiel: In Datensätzen taucht manchmal „0000-00-00“ als Wert für ein Datum auf. Das steht für ein unbekanntes oder vormals nicht erfasstes Entscheidungsdatum – aber wer hätte das gewusst? Die Abbildung in dem neuen System sollte und wird auch verständlicher erfolgen.
Ziel dieser kleinschrittigen Entwicklungsmethode ist es, anhand von Erkenntnissen aus dem Livebetrieb das Produkt nutzerzentriert weiterzuentwickeln. Die Mitarbeitenden in den Dokumentationsstellen nehmen an wöchentlichen Konzepttestings und zweiwöchentlichen Reviews zur Demonstration der Fortschritte am Produkt teil. Der interdisziplinäre Ansatz vereint Nutzende mit Entwickler:innen und lässt alle Gruppen über den eigenen Tellerrand hinausschauen. Die Nutzenden erfahren Wertschätzung und Beachtung, indem auf ihr Wissen eingegangen wird. Daraus ergibt sich ein hoher Zuspruch für diese Form der Zusammenarbeit.
Die Nutzenden haben dauerhaft Zugang zum Produkt. Daher bekommt das Entwicklungsteam des DigitalService nicht selten unaufgefordert Feedback, was nichts anderes bedeutet, als dass die Projektpartner:innen sich interessiert vor das Produkt setzen und einfach testen. Das ist für beide Seiten von Vorteil: Das Entwicklungsteam erhält kontinuierlich Feedback zu Funktion und Handhabbarkeit und kann anhand dessen Optimierungen vornehmen. Die Dokumentationsstellen stellen so sicher, dass ihren Bedürfnissen entsprochen wird und „üben“ gleichzeitig täglich mit ihrem zukünftigen System. Das Vertrauen in die Lösung steigt, außerdem sind die Nutzenden mit dem System schon sehr vertraut, sodass ihnen der finale Wechsel bei der endgültigen Systemumstellung leichter fallen wird. Teamwork makes the dream work.
Zentral und Kostenfrei
Parallel zum Rechtsinformationssystem beginnt bald die Entwicklung des Rechtsinformationsportals. Das Rechtsinformationsportal soll eine einfach zugängliche, barrierefreie und gut nutzbare Website und eine offene Schnittstelle bieten, welche die Rechtsdaten zentral und kostenfrei zur Verfügung stellt. Aktuell sind diese Rechtsinformationen noch auf verschiedenen Portalen zu finden: Gesetze-im-Internet, Rechtsprechung-im-Internet und Verwaltungsvorschriften-im-Internet. Dies gilt es zu ändern und zu modernisieren. Auch dieses Portal wird iterativ entwickelt und anhand stetiger Nutzertests fortlaufend weiterentwickelt.
Neben einer deutlichen Verbesserung des Zugangs zu Rechtsinformationen für die gesamte Gesellschaft freuen wir uns als Entwicklungsteam, dass diese moderne Form der Zusammenarbeit auch auf Verwaltungsebene fruchtet und Entwickelnde und Nutzende gemeinsam Erfolg damit haben.