Co-Creation: Wie wir mit dem Bundesgerichtshof zusammenarbeiten
Die enge Zusammenarbeit mit Nutzer:innen während der Produktentwicklung ist in allen Projekten des DigitalService von zentraler Bedeutung. „Co-Creation“ nennen wir das – es ist ein zentraler Schlüssel dafür, dass unsere Produkte wirklich nutzerzentriert sind.
Für die Entwicklung des Neuen Rechtsinformationssystems (NeuRIS) kollaboriert unsere Arbeitsgruppe „Rechtsprechung“ intensiv mit einer sehr kleinen und speziellen Nutzendengruppe. In engem und kontinuierlichem Austausch mit acht bis zwölf Mitarbeitenden der Dokumentationsstelle am Bundesgerichtshof (BGH) und am Bundesverfassungsgericht (BVerfG) bauen wir eine moderne Umgebung für die Dokumentation von Rechtsprechung und juristischer Literatur.
Am Beispiel dieses Projektes wollen wir drei Säulen der Zusammenarbeit zeigen, die Co-Creation hier für uns erfolgreich machen: Shadowing, wöchentliche Konzept-Testings und Kick-Off-Meetings zu neuen Features.
Shadowing
Wir müssen die genaue Arbeitsweise und den Arbeitskontext unserer Nutzendengruppe verstehen, um die für sie beste Anwendung zur Dokumentation von Rechtsprechung zu entwickeln. Dafür haben wir u. a. die User-Research-Methode des Shadowing angewendet.
Während der Discovery-Phase unseres Projektes im Frühjahr 2022 haben wir die Dokumentationsstellen des BGH und des BVerfG für drei Tage besucht. Ziel war es, die Mitarbeitenden in ihrer täglichen Arbeitsroutine zu beobachten und zu lernen, wie sie mit dem bisherigen Dokumentationssystem arbeiten.
Ganz konkret sah das so aus: Zwei unserer Teammitglieder aus den Disziplinen Produkt und Design saßen mit einem oder einer Dokumentar:in am Schreibtisch. Wir haben die Personen gebeten, ganz normal ihren Job zu machen. Allerdings sollte die jeweilige Person dabei laut alle Schritte im Arbeitsprozess kommentieren, im Sinne von „Ich öffne das Programm und logge mich ein“. Besonders Dinge, die den Mitarbeitenden der Dokumentationsstellen selbstverständlich erscheinen, sind für uns wichtig zu wissen. Wir wollten kleine Gewohnheiten entdecken, z. B. zu individuellen Vorlieben, wie der Bedienung via Tastatur, oder zu Arbeitsschritten, die derzeit noch analog ausgeführt werden, damit wir sie im neuen System digitalisieren können. Wir haben genau beobachtet, in welcher Reihenfolge gearbeitet wird und wie lange bestimmte Arbeitsschritte dauern. Während dieser Besuche haben wir viele Nachfragen zu den Arbeitsabläufen gestellt – als qualitative Nutzendeninterviews in das Shadowing mit eingebaut.
Die Erkenntnisse aus Shadowing und den Interviews konnten wir nutzen, um unsere User Journey zu überprüfen. Die wurde von uns bereits vor dem Besuch erstellt, basierend auf dem Lastenheft und unseren eigenen Annahmen. Sie beinhaltete eine erste Überlegung des späteren Prozesses, beginnend beim Einloggen in das System bis hin zum abschließenden Absenden der Daten.
Ohne das Shadowing hätten wir die ursprüngliche User-Journey umgesetzt und wären bei der Produktentwicklung vermutlich in viele falsche Richtungen gelaufen. Als Startseite im neuen Programm haben wir zum Beispiel ein Dashboard mit einer Übersicht zu verschiedenen Aspekten der Dokumentation vorgeschlagen. Aus dem Shadowing haben wir aber erfahren, dass der Großteil der Daten-Erfasser:innen ihre Arbeit mit der Suchfunktion startet. Daraus haben wir abgeleitet, dass die Suche der Einstieg ins Programm sein sollte.
Ein weiteres Beispiel: Wir haben gesehen, dass die Mitarbeitenden der Dokumentationsstellen ihren Aufgabenstand mithilfe von Zetteln dokumentieren und die Zettel in die Büros der Kolleg:innen bringen. Das hat uns dazu inspiriert, im neuen System eine digitale Funktion zur Arbeitsübergabe einzubauen.
Die Dokumentar:innen arbeiten außerdem im Wochenrhythmus an der Dokumentation einer bestimmten Art von rechtlichen Entscheidungen. Mit einem farbigen Magnet, den sie außen an ihrer Bürotür befestigen, zeigt der oder die jeweilige Dokumentar:in, dass die Person im Moment an diesen bestimmten Entscheidungen arbeitet. Der Magnet in der jeweiligen Farbe wandert dann jede Woche entsprechend weiter. Im neuen System wollen wir daher die Möglichkeit schaffen, digital abzubilden, wer aktuell an diesen Entscheidungen arbeitet, um den Prozess zu vereinfachen.
Diese Beispiele zeigen, dass die Erkenntnisse aus dem Shadowing direkt in den Entwicklungsprozess eingeflossen sind. Sie haben uns dabei geholfen, unsere ursprüngliche User-Journey zu überarbeiten. Am Ende sah diese ganz anders aus, als wir zunächst angenommen hatten. Außerdem haben der detaillierte Austausch und der Prozess der Beobachtung die Grundlage für unser Vertrauensverhältnis mit unseren Nutzenden geschaffen.
Wöchentliches Austauschformat: Konzept-Testing
Ein Kernformat für unsere kontinuierliche Co-Creation sind unsere wöchentlichen Konzept-Testings, an denen neben den Mitarbeitenden der Dokumentationsstellen unsere Kolleg:innen aus den Bereichen Produkt, Design und Entwicklung teilnehmen. Die Nutzenden teilen ihren Bildschirm im Videocall und zeigen uns, wie sie im bestehenden System arbeiten und welche Funktionen sie im neuen System brauchen. Gleichzeitig zeigen wir neue Entwicklungsstände und bekommen dazu noch während der Entwicklung Rückmeldung. Dieses gegenseitige „über die Schulter schauen“ hilft uns zu verstehen, warum bestimmte Features im System so wichtig für die Nutzenden sind.
Wir nutzen diese Konzept-Testings auch für Usability-Tests. Unsere Nutzenden kennen das Interface bereits, da sie Teil des gesamten Entwicklungsprozesses sind und kontinuierlich testen können. In den Sessions klären wir oft vor allem Feinheiten, wenn beispielsweise ein Feature im neuen System anders umgesetzt ist als vorher (ein Textfeld wird zu einer Dropdown-Auswahl).
In den Testings sind die Mitarbeitenden der Dokumentationsstellen mit viel Einsatz und Engagement dabei, was für uns sehr wertvoll ist. Eine Nutzerin hat zur Vorbereitung auf ein Konzept-Testing z. B. aus verschiedenen Screenshots unserer Produktionsversion der neuen Software eine neue Variante der Bildschirmansicht zusammengebaut, um ihre Wünsche zu veranschaulichen – Beamtin goes User-Interface-Designerin.
Kick-Off-Meetings zu neuen Funktionen
Sobald eine neue Funktion für das System geplant ist, gehen wir zusammen mit unseren Projektpartner:innen im Bundesamt für Justiz (BfJ) und den Nutzenden in den Dokumentationsstellen in eine Discovery-Phase. Bei der Planung neuer Funktionen müssen wir gemeinsam herausfinden, ob diese wirklich gebraucht werden. Wünschen sich die Dokumentator:innen bestimmte Features, weil diese auch Teil der aktuell genutzten Software sind oder wären die neuen Funktionen wirklich eine Verbesserung? Als Produkt-Team ist es an dieser Stelle unsere Aufgabe, das kritisch zu hinterfragen und einzuschätzen. Manchmal haben wir verbesserte Funktionen probeweise umgesetzt und unseren Nutzenden gezeigt, dass diese ihre Arbeit deutlich vereinfachen. Umgekehrt passiert es aber auch, dass eine Neuerung nicht unbedingt effizienter ist. Dieses Feedback nehmen wir immer gerne an.
Um dieses gemeinsame Verständnis zu finden und alle dazugehörigen Fragen zu klären, bringen wir bei den Kick-Off-Meetings Kolleg:innen aus all unseren Disziplinen (Produkt, Design, Software-Entwicklung) und unsere Nutzenden für einen halben Tag zusammen, manchmal auch vor Ort. Hier werden teils neue Features vorgestellt, teils ganze Pilot-Testings vorbereitet.
Nachdem wir Vorschläge und Hinweise von unseren Nutzenden gesammelt haben, entwickeln wir erste Konzepte für die neuen Features. Dabei beginnen wir oft mit der Entwicklung von „User-Flows“ und bauen dann hochauflösende Prototypen, die dem tatsächlichen Produkt schon sehr nahekommen. Diese gehen dann wieder ins Konzept-Testing.
Fazit
Unsere Herangehensweise zeigt uns immer wieder, dass die gemeinsame Entwicklung und der kontinuierliche Austausch essentiell für ein gut nutzbares Produkt sind. Zusammen mit unseren Partnern in den Dokumentationsstellen nutzen wir erfolgreich neue effiziente Kommunikations- und Projekttools. Dadurch haben wir kurze, direkte Kommunikationswege geschaffen. Diese und der dauerhafte Zugang zum aktuellen Stand des Systems schaffen Vertrauen bei unseren Nutzenden – wir sind mit einigen inzwischen schon per „Du“. Gemeinsam treffen wir schnell und effizient Entscheidungen und entwickeln so das Produkt zielführend in der Co-Creation weiter.