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Eine Gruppe Personen sitzt an einem Tisch und diskutiert

Digitalstrategie – Ein Lernraum zur Zusammen­arbeit entsteht

Es ist ein für die deutsche Verwaltung immer noch eher seltenes Bild: Vertreter:innen aller Ministerien sitzen an einem runden Tisch zusammen. Gemeinsam wird offen über Herausforderungen der Digitalstrategie gesprochen, gegenseitige Unterstützungs­möglichkeiten werden ausgelotet. Mit dabei: ein kleines Team des DigitalService, der diese neue Form der Zusammenarbeit im Rahmen der Digitalstrategie methodisch begleitet.

Die Digitalstrategie der Bundesregierung bildet ein gemeinsames Dach für die digitalpolitischen Schwerpunkte und Ziele der Ministerien. Mehr als 130 Zielvorgaben laufen hier zusammen, verteilt über alle Bundesministerien. Auf allen Beteiligten lastet dabei ein hoher Druck: Die Digitalstrategie hat schließlich zum Ziel, dass Deutschland 2025 zu den zehn führenden Ländern Europas im Digitalbereich gehören wird.

Diese ambitionierten Ziele können nur erreicht werden, wenn Vertreter:innen der Bundesministerien vertrauensvoll zusammenarbeiten. Das Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) hat uns damit beauftragt, diesen Prozess zu unterstützen und einen ressortübergreifenden Lernraum für die Zusammenarbeit der Ministerien im Rahmen der Digitalstrategie aufzubauen.

Dieser Lernraum soll von einer positiven und transparenten Fehler- und Lernkultur geprägt sein. Um dies zu unterstützen, haben wir in einem ersten Schritt die Moderation einer interministeriellen Arbeitsgruppe (imAG) übernommen, die sich regelmäßig trifft.

Grafische Darstellung des Auswahlmechanismus und der Zusammensetzung der interministeriellen Arbeitsgruppe

Der DigitalService moderiert aktuell die im Rahmen der Digitalstrategie stattfindende interministerielle Arbeitsgruppe (imAG) der Koordinierungsreferate.

Organisation der Ministerien

Zu Beginn lohnt ein Blick auf die Organisation des Gesamtprojekts Digitalstrategie. Jedes Ministerium setzt im Zuge der Digitalstrategie verschiedene Maßnahmen um. Den Überblick über die Vorhaben innerhalb eines Hauses hat jeweils ein Referat. Wir haben uns intern für die Bezeichnung „Koordinierungsreferat“ entschieden. Das ist allerdings nicht die offizielle Bezeichnung (jedes Ministerium benennt dieses Referat anders), beschreibt aber gut dessen Funktion. Koordinierungsreferent:innen sind das Sprachrohr für externe Anfragen jeglicher Art in das Innere eines Ministeriums. Im Fall der Digitalstrategie organisierten Koordinierungsreferent:innen zum Beispiel im Erstellungsprozess der Digitalstrategie den jeweiligen Beitrag des jeweiligen Hauses und stimmten diesen mit dem BMDV ab.

Um einander zu informieren, sich auszutauschen und gegebenenfalls Kooperationen zu etablieren, gibt es ein regelmäßiges Treffen von Vertreter:innen der Koordinierungsreferate aller Bundesministerien in einer interministeriellen Arbeitsgruppe (imAG).

Autor Benjamin Jadkowski präsentiert die Chatham-Haus-Regel

Hürden der Zusammenarbeit

Die Mitglieder unseres Projektteams sind Expert:innen in den Bereichen erkenntnisgetriebene Prozessbegleitung, nutzerzentriertes Design und digitale Transformation. Schon früh wurde deutlich: Damit die imAG von der gewünschten positiven und transparenten Fehler- und Lernkultur geprägt ist, müssen bestehende Hürden abgebaut werden. Wir haben uns zunächst den üblichen Aufbau und Ablauf von imAGs angeschaut und gemeinsam mit den Teilnehmenden folgende Spannungsfelder identifiziert:

  1. Negative Koordination

ImAGs sind gewöhnlich von sogenannter „negativer Koordination“ geprägt (Husstedt 2014): Es wird lediglich geprüft, ob eine Entscheidungsvariante einen negativen Einfluss auf den Status quo oder die Interessen der Ressorts hat. Salopp gesagt, geht ein:e Koordinierungsreferent:in mit zwei Aufgaben in eine imAG:

  • Erstens: dem Schutz des eigenen Zuständigkeitsbereichs. Nach dem Ressortprinzip darf kein Ministerium in dem Zuständigkeitsbereich eines anderen entscheiden – hier geht es nicht zuletzt auch darum, die politischen Interessen der Hausleitung des Ministeriums zu vertreten. Im Zweifel heißt es dann eher erst einmal nein als ja.
  • Zweitens: der Ressourcenschonung. Arbeitszeit ist knapp und die Ergebnisse einer imAG zahlen vor allem auf die Sichtbarkeit des federführenden Ressorts beziehungsweise der entsprechenden Partei ein. Die Bereitschaft, Aufgaben zu übernehmen, die in geteilter Verantwortung liegen, ist marginal.

Die Konsequenz: Im Gegensatz zur positiven Koordination findet so häufig keine Erarbeitung eines gemeinsamen Zielbilds und Problemverständnisses statt. Auch die Prüfung bestmöglicher Lösungen, die für alle Akteure den größtmöglichen Nutzen hätten, bleibt aus. Dadurch entsteht zwar ein wesentlich geringerer Koordinationsaufwand, das Ergebnis ist aber meist nur der berühmte „kleinste gemeinsame Nenner“ und in einer Drei-Parteien-Koalition fatal: Worauf sich so geeinigt werden kann, ist eher weniger als mehr.

  1. Sach- und nicht personenbezogenes Arbeiten

Eine weitere Herausforderung ergibt sich durch den Grundsatz des deutschen Staatsapparates: „Das Personal folgt den Aufgaben“. Oder, wie eine Ministeriumsmitarbeiterin dem DigitalService erklärte: „Wir arbeiten sach- und nicht personenbezogen!“. Zuallererst steht also die Sache oder die Aufgabe, die Person dahinter ist zweitrangig – zumindest formal. Neben positiven Effekten wie einer flexibleren Arbeitsverteilung führt dies leider dazu, dass Aufgaben häufig übergeben werden, die Teilnehmer:innen der imAG ständig wechseln beziehungsweise sich vertreten lassen, die Treffen remote und meist in großer Runde stattfinden. Da unklar ist, ob oder wer bei weiteren Treffen dabei sein soll, wird pro forma teilgenommen – oft jedoch eher passiv. In diesem Rahmen konstruktiv über Herausforderungen zu sprechen, ist schwierig.

Beide Prinzipien stehen dem Aufbau eines neutralen und ressortübergreifenden Lernraums entgegen.

Nutzerzentriert zu funktionierenden Rahmenbedingungen

Um das zu ändern, machten wir es uns zunächst zum Ziel, die Erfolgsfaktoren und die Bereitschaft für die Zusammenarbeit der Teilnehmenden für das „Experiment Lernraum“ in Erfahrung zu bringen.

Ganz im Sinne der Nutzerorientierung starteten wir mit Interviews. Wie zu erwarten, gab es zunächst Bedenken bei den Koordinierungsreferent:innen: „Herausforderungen schreibt keiner gerne auf“, „Neutraler Raum ja, aber wie? – Je größer der Kreis, desto schwieriger ist es, etwas zu schaffen“, oder „Brauchen wir noch einen Raum oder müssten wir nicht eigentlich mal aufräumen, was wir an Gremien und Runden haben?“ waren einige der Ansichten, die geäußert wurden. Gleichzeitig wurde in unseren Gesprächen schnell klar, dass „Transparenz und Ehrlichkeit zwingend notwendig für den Erfolg“ eines Austausches auf interministerieller Ebene sind – und dass die Aussicht auf „so etwas wie eine vertrauensvolle Gemeinschaft“ durchaus ihren Reiz hat.

Transparenz und Ehrlichkeit zwingend nötig für Erfolg!

Regeln für die Zusammenarbeit festlegen

Die Interviews bestätigten teilweise unsere Bedenken, aber gaben uns auch gute Hinweise, wie wir bei der Moderation der imAG vorgehen mussten. Zur Vorbereitung führten wir im Frühjahr 2023 vier halbtägige Auftakt-Workshops durch. Dort legten wir gemeinsam mit den Koordinierungsreferent:innen den Grundstein für die weitere Zusammenarbeit der Gruppe.

Um einen konstruktiven Austausch zu gewährleisten und mehr im Sinne der positiven statt negativen Koordination zu arbeiten, setzten wir folgenden Rahmen:

  1. Kontinuierliche und persönliche Teilnahme:
    Für die Auftaktserie gestatteten wir nur eine:n Teilnehmer:in pro Ressort und forderten eine kontinuierliche sowie persönliche Teilnahme vor Ort. Es gab Widerstand: Der Ressourceneinsatz sei zu hoch, und ohne Vertretungsmöglichkeit und Remote-Teilnahme sei die Arbeitsbelastung nicht zu stemmen. Glücklicherweise hatten wir Rückhalt durch unseren Projektpartner, das federführende BMDV, gute Argumente und motivierte Teilnehmer:innen, die das trotz der Widerstände möglich machten. Denn für einen vertraulichen Rahmen, innerhalb dessen gemeinsam und offen über Herausforderungen gesprochen wird, brauchte es das persönliche Kennenlernen.

  2. Wir etablierten die Chatham-Haus-Regel:
    Den Teilnehmer:innen der imAG ist die freie Verwendung der erhaltenen Informationen unter der Bedingung gestattet, dass weder die Identität noch die Zugehörigkeit von Redner:innen oder anderen Teilnehmer:innen preisgegeben werden dürfen. Wenn die vorgesetzte Person eines Teilnehmenden später also fragt „Was wurde besprochen?“, dann darf darauf geantwortet werden – wenn daraufhin die Nachfrage kommt, „Wer hat das gesagt?“ oder „Von welchem Ministerium kommt das?“ dann darf nicht geantwortet werden. Um in der imAG zu einem gemeinsamen Problemverständnis und zu Lösungsansätzen zu kommen, ist das ungemein wichtig, da so der geäußerte Standpunkt nicht sofort der politischen Position des Hauses entsprechen muss und freier gesprochen und gedacht werden kann. Natürlich braucht es dennoch die Aushandlungs- und Entscheidungsebene, aber sie verhindert so nicht die konstruktive ressortübergreifende Zusammenarbeit.

  3. Wir erarbeiteten gemeinsam eine Teamvereinbarung zur Zusammenarbeit:
    Jede Gruppe hat ihre eigenen Werte. Hier gab es Raum, sich über Do’s und Dont’s für das Miteinander auszutauschen und gemeinsam auf die wichtigsten Punkte zu einigen.

Das Setup zeigte Wirkung. Die Resonanz zur Art und Weise der Durchführung der Workshops war durchweg positiv. Das persönliche Kennenlernen über Referatsbezeichnungen hinaus wurde sehr begrüßt und das Feedback zu den Workshops immer besser.

Mitglieder der interministeriellen Arbeitsgruppe sitzen zusammen und diskutieren

Gemeinsame Ziele definieren

Durch die Auftakt-Workshops hat die Gruppe einen guten Kommunikationsrahmen geschaffen. In den folgenden Treffen gilt es, den gemeinsamen Fokus zu schärfen. Zwei Fragen gilt es mit der Arbeitsgruppe vor allem zu klären:

  1. Wie findet eine sinnvolle Priorisierung statt, welche der über 130 Maßnahmen besonders von einem ressortübergreifenden Austausch profitieren könnten?
  2. Wie erhöhen wir die Motivation zur Teilnahme an ressortübergreifenden Austauschformaten, die zunächst als eine zusätzliche Belastung zum Tagesgeschäft erscheinen?

Mithilfe des erarbeiteten Rahmens kamen wir hier schnell zu ersten Ergebnissen. Eine frühe Erkenntnis der interministeriellen Arbeitsgruppe war, dass der fachliche Austausch unter den Ministerien – also zu dem „Was” ihrer Arbeit – durch die Zuständigkeiten und Ressortzuschnitte meist mitgedacht wird. Die zweite Erkenntnis: Worüber es bisher zu wenig Austausch gibt, ist das „Wie” der Arbeit, also wie Digitalisierungsvorhaben konkret umgesetzt werden.

Die Koordinierungsreferent:innen erarbeiteten, dass die Maßnahmenverantwortlichen der verschiedenen Ministerien häufig vor ähnlichen Herausforderungen in der Umsetzung stehen, sie aber zu wenig miteinander sprechen. Grund dafür ist, dass die Herausforderungen jenseits der Fachlichkeit liegen. Wenn es also beispielsweise um Umweltbildung geht, liegt es auf der Hand, dass das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV) miteinander reden. Wenn es aber darum geht, dass zwei Vorhaben verschiedener Ministerien eine ähnliche technische Infrastruktur benötigen, es fachlich aber keine Überschneidung gibt, kommt der Austausch meist zu kurz. Synergiepotenziale beim „Wie“ der Umsetzung bleiben also ungenutzt.

Ein erstes Fazit – und wie es weiter geht

Schon nach kurzer Zeit im Projekt Lernraum Digitalstrategie hatten sich wichtige Erkenntnisse herauskristallisiert. Das Ziel muss es sein, über die interministerielle Arbeitsgruppe hinaus Austauschmöglichkeiten zwischen den Ministerien zu schaffen. Maßnahmenverantwortliche müssen miteinander in Kontakt kommen und sich über die Art und Weise der Umsetzung austauschen und voneinander lernen können. Die imAG kann ein Grundstein dafür sein.

Gleichzeitig hat die bisherige gemeinsame Arbeit gezeigt, dass der ressortübergreifende Austausch von einer unabhängigen Moderation profitiert und zu schnellen Erkenntnissen führt. Problemfelder wurden identifiziert – und können jetzt gemeinsam angegangen werden.

Damit ist die Moderation der Gruppe ein wichtiger Bestandteil im Gesamtziel, den ressortübergreifenden Lernraum einzurichten. Weitere Schritte werden folgen – denn die Digitalstrategie und ihre Umsetzung hat noch einen weiten Weg vor sich.

Wie wir die Umsetzung begleiten, welche Methoden zum Einsatz kommen, welche Hürden wir überwinden und welche Erfolge wir feiern dürfen – darüber informieren wir auf diesem Blog.


Porträtfoto des Autors Benjamin Jadkowski

Benjamin Jadkowski

ist Project Lead und arbeitet seit Februar 2022 im DigitalService. Mit einem Hintergrund in Zukunftswissenschaften und Design Thinking begleitet er seit über acht Jahren Organisationen in der digitalen Transformation und im Umgang mit Ungewissheit. Auf den Verwaltungsgeschmack ist er als Work4Germany Fellow im Bundesministerium für Arbeit und Soziales gekommen: Die Mischung aus komplexen, gesellschaftsrelevanten Themen und motivierten Menschen ist für ihn einzigartig. Um den Kopf freizubekommen, findet man Benjamin draußen in der Natur oder in der nächsten Boulderhalle.