Interview mit Senior UX Designerin Charlotte
Charlotte Vorbeck ist seit Mai 2021 Senior UX Designerin beim DigitalService. Charlotte hat zuvor sowohl als Senior Software-Entwicklerin als auch als Senior UX Designerin gearbeitet und bringt daher Design-, Tech- und Führungserfahrung mit. Um runterzukommen backt Charlotte gerne Kuchen. Das freut nicht nur ihre Kinder, sondern auch Kolleg:innen, denn sie teilt gerne. Charlotte findet, dass der DigitalService, wäre er ein Tier, am ehesten ein Känguru wäre. Wieso? Das erfahrt Ihr hier.
„Es liegt in unserer Verantwortung, eine kollaborative Arbeitsweise zu ermöglichen und verschiedene Perspektiven zu integrieren.”
Charlotte, worauf warst Du zuletzt stolz?
Wir haben in einem Projekt, das von der Verwaltung zunächst mit Lastenheft entwickelt wurde, erstmals eine User-Recherche gemacht. Wir Designer:innen müssen ja immer Bilder kriegen, wir müssen die Luft riechen. Sobald wir das haben, kriegen wir richtig Drive. Wir sind dann als Team vier Tage gemeinsam verreist und haben mit Nutzer:innen gesprochen, die perspektivisch mit unserer Software arbeiten werden. Das hat bei uns wirklich den Stein ins Rollen gebracht. Wir haben noch besser verstanden, worum es geht. Das hat uns als Team zusammengebracht und allen geholfen, in eine gemeinsame Richtung zu schauen: Da sind die User. Das müssen wir lösen. Dann beginnen die Sparks. Eine geteilte Erkenntnis funktioniert einfach immer.
Was diskutiert Ihr aktuell im Team?
Gibt es eine Alternative zu einem Big Bang? Also: Big Bang heißt in dem Sinne, dass wir die Software als Komplettpaket erst in drei Jahren ausliefern. Das würden wir gerne vermeiden. Die Frage ist: Wie?
Wie erlebst Du das Spannungsfeld zwischen Start-up und Projektwelt der Verwaltung?
Wir haben das gerade neulich im Team reflektiert. Wir müssen eine gesunde Balance zwischen Schnelligkeit und Involvement finden. Das ist ganz viel Überzeugungsarbeit und gegenseitiges Kennenlernen.
Wie erlebst Du die unterschiedlichen „Sprachen“, die mit verschiedenen Organisationskulturen einhergehen?
Der Begriff „shared understanding“ ist für uns total wichtig und grundlegend für eine erfolgreiche Zusammenarbeit. Ein gemeinsames Vokabular zu finden, das alle aktiv einsetzen können, ist ein grundlegender Baustein unserer Projektarbeit. Wenn man das erreicht hat, ist man einen ganz, ganz großen Schritt weiter. Das geht weit über Sprache hinaus …
Wie geht Ihr beim Bau von IT-Lösungen vor?
Ganz wichtig: Wir arbeiten iterativ. Wir wollen in kleinen Paketen verstehen: Was ist jetzt die richtige Sache, die ich baue? Es geht uns darum, schnell zu validieren. Man kann sich ganz viel am Reißbrett ausdenken, aber die Praxis belehrt uns vielfach eines Besseren. Dinge, die man über Vorgespräche nicht erfassen konnte, treten im Arbeitsalltag auf. Daher lassen wir uns genügend Raum, um immer wieder neu zu entscheiden: Was ist jetzt die nächste Priorität?
Euer Versprechen ist es, Dienstleistungen des Bundes für alle Menschen genauso einfach erreichbar und bedienbar zu gestalten wie andere digitale Produkte, die wir regelmäßig nutzen. Wie macht Ihr das?
Hier gilt es, zunächst Offenheit zu erwirken für agiles Arbeiten. Product Thinking! Es reicht nicht nur, wenn ich eine Feature-Liste abarbeite. Ein Produkt kann und soll mehr können. Dann Nutzerzentrierung an sich: indem ich kleine Feedbackzyklen einbaue und fest im Prozess verankere. Zuhören, Schulterblicke, Feedback: So stelle ich sicher, dass ich fortlaufend validiere, ob ich mein Versprechen einhalte und sinnvoll arbeite. Wenn ich beispielsweise über Barrierefreiheit spreche, muss ich auch Menschen mit Einschränkungen in den User-Design-Prozess einbeziehen.
Wie würdest Du einem 5-jährigen Kind Deine Arbeit erklären?
Ich versuche, Websiten und Apps auf dem Handy oder dem iPad so zu bauen, dass man nicht mehr extra zum Amt gehen muss, sondern möglichst viel selber von zu Hause aus erledigen kann.
Was motiviert Dich auf der Alltagsebene?
Mein Team. Alle haben den Anspruch, sehr professionelle Arbeit auszuliefern. Wir haben eine ähnliche Vorstellung davon, wie wir miteinander arbeiten wollen. Und ein gemeinsames Mindset: Man muss nicht alles können und auf alles eine Antwort haben. Zum Beispiel auf die Frage: Wie transferiere ich ein Lastenheft in ein neues agiles Verfahren, sodass alle mitgenommen werden und an Bord bleiben? Das wurde bis jetzt noch nicht gemacht. Dafür finden wir jetzt gemeinsam Lösungen.
Kannst Du uns die Atmosphäre beim DigitalService beschreiben?
Wir sind eine sehr junge, wachsende Organisation und sehr weiblich. Offen. Wir sind noch neu und in der Findungsphase. Es ist ganz viel Motivation da und viel Begeisterung. Gleichzeitig gibt es noch viele offene Fragen und Gestaltungsspielräume.
Was sind Core Skills für ein Team, das sich in so einer neuen Arbeitsumgebung bewegt?
Core Skills sind hier aus meiner Sicht: Wie kann ich Komplexität runterbrechen? Wie kann ich mir schnell Wissen aneignen? Wie können wir voneinander lernen? Was uns da motiviert, ist der gegenseitige Support und das Back-up seitens der Führungsebene. Wir haben Freiheiten, für uns passende Lösungen zu finden und kriegen im Zweifelsfall die Bestärkung, auch mal eine rote Linie zu setzen. Wir brauchen eine ähnliche Vorstellung davon: Was genau ist der Auftrag? Wo machen Kompromisse Sinn? Wir wollen unsere Methoden und Prozesse für alle gewinnbringend einsetzen.
Wem würdest Du eine Bewerbung beim DigitalService empfehlen? Für welche Art von Menschen ist das hier die richtige Organisation?
Menschen, die gerne eigenverantwortlich im Team arbeiten. Die einen hohen Anspruch an ihre Arbeit und ein gutes Durchhaltevermögen haben. Und Spaß daran, Dinge zum Besseren zu verändern. Vielleicht sogar wirklich davon träumen.
Wie haltet Ihr Eure Vision aufrecht?
Indem wir sicherstellen, dass wir uns immer wieder darin bestärken, unsere Ziele zu sehen und unsere Methoden fortlaufend zu überprüfen. Dazu gehört auch, dass wir unsere Kultur reflektieren, Enttäuschungen und Freuden teilen und uns intern unterstützen. Wenn da vor einem diese Wand auftaucht und das Gefühl: Hier geht’s nicht weiter … Dann erinnern wir uns gegenseitig daran: Das ist ein Langzeitprojekt. Da wird nicht sofort alles klappen. Das ist ganz normal. Wir motivieren uns, am Ball zu bleiben. Die Vision trägt uns.
Was hättest Du gerne früher gewusst?
Dass ich nicht alles wissen muss.
Wie lebt Ihr die Fehlerkultur beim DigitalService?
Wir versuchen, uns auf die Fehler draufzustürzen. In einem guten Sinne. Da war etwas noch nicht toll: Warum? Wir überlegen gemeinsam, was da los ist. Manchmal ist es etwas ganz Banales. Fehler passieren. Manchmal findet sich der Grund nicht so schnell, dann muss man etwas tiefer tauchen. Wenn es strukturelle Dinge gibt, die Fehler verursachen, müssen wir die natürlich finden. Fehler gilt es, zu verstehen. Was könnten wir ausprobieren, damit das nicht wieder passiert? Das ist für uns auch eine Form von Lernen.
Wie wurdest Du auf den DigitalService aufmerksam und was hat Dich überzeugt, hier anzufangen?
Bei meinem letzten Job habe ich einen LinkedIn Post gelesen und gedacht: ein deutscher DigitalService, spannend. Als UX Designer:in stolpert man ja früher oder später immer mal wieder über den Government Digital Service (GDS) aus Großbritannien, die schon seit 2012 existieren und die einfach viele gute Sachen gemacht haben. Der Bereich ist für uns spannend, weil die Designrolle so wichtig ist. Civic-Design-Organisationen haben in unserem Feld eine gewisse Strahlkraft.
Zuvor warst Du 6 Jahre Senior Software Entwicklerin bei Wooga und 4 Jahre Senior UX Designerin bei SHARE NOW. Was bringst Du aus dieser Zeit mit?
Ich habe viel technisches Wissen und Selbstverständnis zu meiner Funktion als UX Designerin erworben. Für mich ist die UX-Rolle zum einen eine gestaltende Designrolle, gleichzeitig ist man Facilitator. Es liegt in unserer Verantwortung, eine kollaborative Arbeitsweise zu ermöglichen und verschiedene Perspektiven zu integrieren: Was brauchen die Nutzer:innen? Was ist technisch machbar? Was sind Markt- oder Rahmenbedingungen? Was ist das Budget? Zu unserer Arbeit gehört viel aktives Zuhören, um wirklich zu verstehen, was die einzelnen Gruppen jeweils brauchen und welches Ziel sie verfolgen.
Was heißt für Dich gute Führung?
Führung ist unterstützend. Eine gute Führungskraft kann ein Motor sein, um die richtigen Leute mit den richtigen Chancen zusammenzubringen und so viel positive Energie freizusetzen, um außergewöhnlich gute Leistungen zu erzielen. Wo liegt das Potenzial einer Person? Und was braucht sie, um bestmöglich glänzen zu können? Ich glaube, Frauen haben auf das Thema Führung nochmal einen anderen Blick.
Frauen und Technik …
… sind eine Spitzenkombination.
Was liest Du gerade?
Empowered von Marty Cagan.
Wer inspiriert Dich in Deinem Bereich?
Im Civic Design ist es Cyd Harrell. Sie hat ein Buch geschrieben, das ich nur jedem empfehlen kann, der in das Feld will: „A Civic Technologist`s Practice Guide“. Da stehen so viele gute Gedanken drin … Für grundlegendes Produktdesign ist es Melissa Perry. Ihr Credo: Wir müssen rauskommen aus der Feature-Falle und aufhören, Dinge zu bauen, von denen wir nicht wissen, ob sie wirklich jemand braucht. Stattdessen müssen wir unsere ganze Energie darauf fokussieren, die richtigen Dinge zu tun. Und das geht nur, wenn alle relevanten Perspektiven an Bord sind.
Was begeistert Dich an der Verwaltung?
Ich habe schon viele beeindruckende Menschen auf der Verwaltungsebene kennengelernt. Die erlebe ich als extrem prozessstark und sehr diszipliniert.
Wenn der DigitalService ein Tier wäre, welches wäre es und warum?
Känguru. Erstmal sind die Australier:innen total gut, was digitale Produktentwicklung angeht. Wir als DigitalService wollen ja auch relativ schnell vorneweg hüpfen und zwischendrin immer wieder auf den Boden bouncen. Und wir wollen natürlich die Verwaltung in unserem Beutel mitnehmen.
Welche Chancen siehst Du in dem Feld Civic Design?
Staatliche Struktur kann man nutzen und verbessern, indem man Technologie so baut, dass sie für Menschen funktioniert. Im Idealfall ein bisschen gerechter. Transparenter. Partizipativer.