Digitalisierung von Klageverfahren: Erste Schritte für zivilgerichtliche Online-Verfahren
Das aktuelle Rechtssystem stellt Bürger:innen und Gerichte vor große Herausforderungen: Häufig wissen Bürger:innen nicht, wann sie in einer Angelegenheit klagen können, wie teuer es wird oder wie der Prozess abläuft. Entscheiden sie sich für eine Klage, müssen zahlreiche Informationen korrekt eingereicht werden. Dabei treten häufig Fehler auf, die wiederum zu langen Bearbeitungszeiten innerhalb der Gerichte führen. Das Ergebnis: Unnötiger Mehraufwand auf beiden Seiten. Unser Projekt „Zivilgerichtliches Online-Verfahren“ soll das ändern. In diesem Blogbeitrag berichten wir, wie wir anhand der Anwendungsfälle „Fluggastrechte“ und „Zahlungsklagen bis 5000 Euro“ erste Schritte hin zu komplett online geführten Klageverfahren möglich machen wollen.
Ziel des Gesamtprojektes, das wir zusammen mit dem Bundesministerium der Justiz (BMJ) und elf Pilotgerichten in acht Bundesländern umsetzen, ist es, langfristig eine zentrale digitale Anlaufstelle für zivilgerichtliche Online-Verfahren zu schaffen. Wichtig: Die Plattform soll für Bürger:innen, Mitarbeitende in der Justiz und die Anwaltschaft funktional und gut zugänglich sein, eine gute Kommunikation zwischen allen Seiten ermöglichen und Klageverfahren effizienter gestalten. Über die ersten Schritte und den Fahrplan für das Projekt haben wir in dem Blogbeitrag „Digitalisierung der Justiz: Projekte mit dem BMJ gehen in die nächste Phase“ berichtet. Das Projekt ist eingebettet in die Digitalstrategie Deutschland und in die Digitalisierungsinitiative für die Justiz.
Erkenntnisse aus der Nutzendenforschung
Um die Probleme und Herausforderungen von Bürger:innen und Justiz besser zu verstehen sowie objektiv und vielseitig zu betrachten, haben wir viel recherchiert. Wir haben zahlreiche qualitative Interviews geführt und betreiben Sekundärforschung.
Dazu gehören u. a. die Recherche und Analyse von:
- relevanten Forschungsvorhaben, wie die Studie zur „Erforschung der Ursachen des Rückgangs der Eingangszahlen bei den Zivilgerichten“,
- Modernisierungs- und Reformvorschlägen, insbesondere das Diskussionspapier „Modernisierung des Zivilprozesses“ der gleichnamigen Arbeitsgruppe bestehend aus Präsident:innen der Oberlandesgerichte, des Kammergerichts, des Bayerischen Obersten Landgerichts und des Bundesgerichtshofs,
- Justiz-Statistiken und
- Inspirationen aus dem Ausland, z. B. Modelle aus anderen Ländern wie dem „Civil Resolution Tribunal“ in Kanada.
Um den Fokus für unser Minimum Viable Product (MVP) zu definieren, haben wir mit Mitarbeitenden unserer elf Pilotgerichte, Bürger:innen, Expert:innen im Bereich der Modernisierung des Rechts, Anwält:innen, Interessenvertretungen und weiteren Personen aus der Justiz gesprochen.
Die Erkenntnisse aus der Nutzendenforschung haben gezeigt: Für Bürger:innen gibt es vielfältige Hürden, die einen bürgerfreundlichen Prozess erschweren. Das bestätigen auch die Gespräche mit den Gerichten.
Zu den Hürden zählen unter anderem:
- Bürger:innen kennen ihre Handlungsmöglichkeiten außerhalb von Gerichtsverfahren nicht (z. B. Schlichtungsverfahren).
- Bürger:innen finden sich nicht am Gericht zurecht. Intransparente Abläufe und die juristische Fachsprache erschweren eine Orientierung.
- Bürger:innen scheuen den Zeitaufwand.
- Es gibt verschiedene organisatorische Aufwände für Bürger:innen, wie Probleme bei der Terminfindung, schwieriger Zugang zur Beratung oder die Dauer eines Verfahrens.
- Es besteht ein Machtungleichgewicht zwischen Bürger:innen und Rechts-Profis – inhaltlich (fehlendes juristisches Wissen) und strukturell (Regeln und Formalien, benötigte Dokumente und Details zu Gerichtskosten sind nicht bekannt).
Für die Mitarbeitenden in den Gerichten bedeutet es in der Praxis oft einen Mehraufwand, wenn Bürger:innen ihr Rechtsproblem eigenständig (ohne anwaltliche Vertretung) lösen wollen. Postalischer Schriftverkehr mit unvollständigen Angaben verzögert die Bearbeitung am Gericht und lange, schwer verständliche gerichtliche Schreiben führen zu vielen Rückfragen.
Den Gerichten begegnen darüber hinaus zahlreiche weitere Herausforderungen, etwa bei Belastung durch Massenverfahren, wie im Bereich der Fluggastrechte.
Unser MVP: Fokus und Prototyping
Basierend auf der Recherche haben wir zwei zentrale Ansprüche für unser MVP formuliert, die die Rahmenbedingungen für zivilgerichtliche Online-Verfahren für beide Gruppen besser machen sollen:
- Bürger:innen starten besser informiert und digital in die Prozesse und erhalten Hilfe bei der Erstellung von Klageschriften.
- Die Justiz erhält dadurch besser strukturierte und verarbeitbare Klageschriften und interagiert mit besser informierten und digital erreichbaren Bürger:innen.
Bei der Entwicklung unseres Produktes gehen wir Schritt für Schritt vor. In der ersten Version konzentrieren wir uns daher auf die Phase vor der Einreichung einer Klage und die Erstellung der Klageschrift. Dabei wollen wir zwei inhaltliche Ansätze für Online-Formulare testen: einen allgemeinen Ansatz für Klagen mit geringen Streitwerten (bis 5000 Euro) und einen fallspezifischen Ansatz im Bereich der Fluggastrechte, zunächst mit einem Fokus auf verspätete Beförderungen. Zielgruppe werden vorerst Bürger:innen ohne anwaltliche Vertretung sein.
Das gestalten wir wie folgt: Für Bürger:innen wollen wir ein leicht verständliches Informationsangebot mit einem Vorab-Check anbieten. Der Vorab-Check soll die Grundvoraussetzungen zum Einreichen einer Klage vermitteln und die Rahmenbedingungen des jeweiligen Anliegens abfragen. Nutzende sollen hier schnell und einfach herausfinden können, ob ihr Rechtsproblem die Voraussetzungen erfüllt, um zu einer Klage zu werden und ob eines unserer Pilotgerichte für ihren Fall zuständig ist. Ziel ist es, dass Bürger:innen kein Klageverfahren starten, wenn ihr Fall dafür gar nicht passend ist.
Im zweiten Schritt zeigen wir den Bürger:innen ihre Handlungsoptionen auf Basis des Vorab-Checks auf – auch Optionen, die eben nicht die Klage selbst sind, wie zum Beispiel Schlichtungsverfahren. An dieser Stelle wollen wir bei den Bürger:innen ein Verständnis dafür schaffen, was eine Klage für sie wirklich bedeutet, welche Risiken sie eventuell birgt und welche Alternativen es gibt.
Wenn Nutzende sich danach für eine Klage entscheiden, geht es mit der strukturierten Abfrage der relevanten Daten und dem digitalen Einreichen einer Klage weiter. Wir wollen unsere Pilotgerichte dabei befähigen, diese Daten strukturiert zu empfangen und adäquat weiterzuverarbeiten.
Erste Anwendungsfälle
Mit unserem MVP möchten wir uns zunächst auf ein spezifisches Eingabe- und Abfragesystem für Zahlungsklagen im Bereich der Fluggastrechte fokussieren. Konkret geht es um das Einklagen von Entschädigung bei Verspätungen. Wir haben uns für dieses Thema entschieden, da die Fallgestaltung gut strukturierbar ist und gleichzeitig stellvertretend für andere massenhaft auftretende Fälle stehen kann. Die Pilotgerichte haben uns in Interviews bestätigt, dass Fluggastrechte ein relevanter Anwendungsfall mit einem hohen Vorkommen sind.
Im zweiten Schritt wollen wir das MVP erweitern und digitale Eingabesysteme entwickeln, die Bürger:innen allgemein bei der Erstellung von Zahlungsklagen mit Forderungen von derzeit bis zu 5000 Euro unterstützen, z. B. bei Internetgeschäften. Außerdem wollen wir weitere Anwendungsfälle im Bereich der Fluggastrechte erproben, wie z. B. Forderungen bei Flugausfall oder Problemen mit dem Gepäck.
Aktuell arbeiten wir an einem Prototyp für das MVP, das heißt unsere Designer:innen und Entwickler:innen erarbeiten den digitalen Abfragedialog für den Vorab-Check und die Klageeinreichung. Gemeinsam mit unseren Partnerländern und pilotierenden Gerichten haben wir eine fachliche Prüfung unseres Prototyps durchgeführt, um Rechtssicherheit herzustellen. Außerdem testen wir den Prototypen mit Bürger:innen, um möglichst frühzeitig herauszufinden, ob das Tool für sie funktioniert und verständlich ist. Auf Basis der Erkenntnisse entwickeln wir den Prototyp aktuell weiter. Dabei findet ein kontinuierlicher Austausch zwischen allen Projektbeteiligten statt.
Nächste Schritte
Ziel ist es, das MVP ab Mitte 2024 zu launchen und mit Bürger:innen und unseren Projektpartner:innen im Pilotbetrieb zu testen.
Daneben ist geplant, rechtliche Rahmenbedingungen für ein zivilgerichtliches Online-Verfahren zu schaffen (eine sogenannte „Erprobungsgesetzgebung”). Damit sollen die gesetzlichen Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass Bürger:innen perspektivisch das gesamte Klageverfahren digital durchführen können. Im ersten Schritt konzentrieren wir uns auf das digitale Erstellen und Einreichen von Klagen. Dieses Angebot wird zunächst an einzelnen Pilotgerichten zur Verfügung stehen.
Im Entwicklungsprozess werden wir das Produkt nach und nach erweitern und iterieren. Langfristig wollen wir ein vollständig digitales Verfahren ermöglichen. Dieses und die digitale Rechtsantragstelle sollen auf einer Justiz-Plattform verfügbar sein, über die zahlreiche digitale Rechtsangelegenheiten abgewickelt werden können.
Wir stehen noch am Beginn der Entwicklung, freuen uns aber auf die Erkenntnisse aus dem Live-Betrieb unseres MVP.