Digitalisierung der Justiz: Projekte mit dem BMJ gehen in die nächste Phase
Das Bundesministerium der Justiz (BMJ) hat uns mit der Erforschung, Entwicklung und Erprobung einer digitalen Rechtsantragstelle und eines zivilgerichtlichen Online-Verfahrens beauftragt. Ziel beider Projekte ist es, das Potenzial der Digitalisierung im Kontext des Justizsystems zu heben. Die Bedürfnisse der Bürger:innen sowie der in der Justiz tätigen Personen werden dabei in den Mittelpunkt gestellt. Einerseits sollen Bürger:innen mithilfe digitaler Lösungen vereinfachte Zugänge zum Recht und zur Justiz erhalten. Andererseits soll mit Hilfe von Modernisierungsvorhaben ein Beitrag zur Entlastung der Justiz(mitarbeitenden) geleistet werden. Beide Projekte sind Bestandteil strategischer politischer Vorhaben: der kürzlich vorgestellten Digitalstrategie und dem vom BMJ vorgeschlagenen „Pakt für den digitalen Rechtsstaat“.
Durch die Schaffung einer digitalen Rechtsantragstelle sollen Bürger:innen mit Rechtsproblemen eine unkomplizierte digitale Anlaufstelle erhalten. Sie soll das Potenzial haben, Bürger:innen zu unterstützen und zu befähigen sowie die Justiz zu entlasten.
Über zivilgerichtliche Online-Verfahren sollen Bürger:innen im Bereich niedriger Streitwerte ihre Ansprüche in einem nutzerfreundlichen, niedrigschwelligen und zügigen digitalen gerichtlichen Verfahren geltend machen können.
Die Produktvision
Die Projekte setzen auf den Ergebnissen der Erkundungsphase „Zugang zu Recht: Durch Digitalisierung Verbraucherrechte stärken und die Justiz entlasten“ (Discovery Sprint) auf. Darin haben wir gemeinsam mit dem BMJ eine Produktvision entwickelt, die Ausgangs- und Anknüpfungspunkt für die weiteren Arbeiten ist.
Wir befähigen die Bürger:innen, ihr Recht geltend zu machen, indem wir ihnen Informationen zu ihren Rechten leicht zugänglich zur Verfügung stellen, Optionen begreifbar machen und niedrigschwellige, klare Handlungsmöglichkeiten anbieten.
Wir befähigen die Justiz, die Vorgänge und Verfahren digital, effizient und qualitativ hochwertig zu bearbeiten.
Ziel dieser Produktvision ist es, die Rechte der Menschen in unserem Land durch Digitalisierung zu stärken, die Justiz zu entlasten, Bürger:innen zu befähigen und damit nicht zuletzt das Vertrauen der Bürger:innen in die Demokratie und den Rechtsstaat zu stärken.
Der Fahrplan für die nächste Monate
In der vorangegangenen Erkundungsphase haben wir ein gut funktionierendes Modell der partnerschaftlichen Zusammenarbeit und des Vertrauens mit unseren Projektpartner:innen aus dem BMJ entwickelt – insbesondere ein gemeinsames Mindset, wie wir nutzerzentriert, agil und iterativ digitale Produkte entwickeln.
In der nächsten Projektphase, dem nun anlaufenden Discovery Deep-dive, stehen ein vertieftes Problemverständnis mit erkenntnisgetriebener Lösungssuche und die technische Erforschung auf der Agenda. Außerdem werden wir in dieser Zeit einen inhaltlichen Fahrplan für den weiteren Projektverlauf definieren. Der Deep-dive soll bis Februar 2023 abgeschlossen sein. Unser Ziel: danach in die konkrete Produktentwicklung einzusteigen.
Innerhalb des Komplexes „Problemverständnis und Lösungssuche“ werden wir zunächst weiterführende Interviews mit Bürger:innen und Akteur:innen der Justizpraxis durchführen. Auf Basis dieser Erkenntnisse werden wir Lösungsideen für priorisierte Nutzendengruppen und Anwendungsfälle generieren und deren Akzeptanz validieren. Wir gehen dabei agil und iterativ vor. Wir konfrontieren unsere Ideen also früh mit der Realität, mit dem Ziel, uns selbst zu hinterfragen, daraus wichtige Schlüsse zu ziehen und Geplantes anzupassen.
Im Rahmen der technischen Erforschung werden wir die Justiz-IT-Landschaft weiter sondieren und Umsetzungsmöglichkeiten evaluieren. Dabei möchten wir insbesondere erkunden, inwieweit digitale Ende-zu-Ende-Services angeboten werden können und die digitale Kommunikation erleichtert werden kann.
Entwicklung im engen Austausch mit relevanten Akteur:innen
Für die digitale Rechtsantragstelle heißt das konkret, dass wir mit Hilfe partizipativer Forschung und durch Gespräche mit Bürger:innen, Justiz-Mitarbeitenden und IT-Expert:innen eine erste funktionsfähige Lösung (Minimum Viable Product – MVP) finden und spezifizieren wollen. Gleichzeitig wollen wir die technische Landschaft sondieren und evaluieren, um die verschiedenen Umsetzungsmöglichkeiten für das MVP informiert bewerten zu können. Dieses MVP soll das Potenzial haben, einerseits Bürger:innen zu befähigen und zu unterstützen sowie andererseits die Justiz zu unterstützen und zu entlasten. Dafür analysieren wir mögliche Anwendungsfälle (z. B. Beratungshilfe) auf Basis von Service Maps – speziellen User Journeys mit Fokus auf Touchpoints innerhalb der Verwaltung – und präzisieren diese mit Hilfe von Expert:innen. Wir wollen außerdem einen Ausblick geben auf die iterative Weiterentwicklung hin zur Produktvision der digitalen Rechtsantragstelle.
Beim zivilgerichtlichen Online-Verfahren soll erprobt werden, ob ein solches Instrument das Potenzial hat, Bürger:innen gerade im Bereich niedriger Streitwerte (Kleinforderungen) eine einfache, nutzerfreundliche und niedrigschwellige Geltendmachung von Ansprüchen zu ermöglichen und zugleich die Justiz zu entlasten. Hierfür wollen wir – im Austausch mit interessierten Ländern und Amtsgerichten – potenzielle Anwendungsfälle erforschen und eingrenzen. Als Basis dienen sowohl Sekundärforschung als auch qualitative Interviews mit Bürger:innen und Stakeholder:innen aus der Justiz.
Wir möchten erste Lösungsideen für die konkrete Ausgestaltung eines zivilgerichtlichen Online-Verfahrens generieren, prototypisch skizzieren und deren Akzeptanz in einem geschlossenen Testumfeld validieren. Lösungsideen und MVP-Optionen möchten wir gemeinsam diskutieren.
Ausschnitt und Arbeitsstand des komplexen Ökosystems „Zugang zum Recht und zur Ziviljustiz“
Auch in diesem Projekt gilt es, die technische Landschaft zu sondieren und zu evaluieren. Eine spannende Besonderheit hierbei ist, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen eines möglichen zivilgerichtlichen Online-Verfahrens erst noch geschaffen werden müssen und dass dieser Schritt politisch angestrebt wird. Die gewonnenen Erkenntnisse aus diesem Projekt sollen einen relevanten Beitrag dazu leisten, die notwendigen gesetzlichen Regelungen zur Erprobung und Pilotierung eines solchen Verfahrens in der Gerichtspraxis (gesetzliche Erprobungsklausel) praxistauglich und adäquat zu gestalten.
Es ist unser erklärtes Ziel, Schlüsselakteur:innen des komplexen Justiz-Ökosystems und der Zivilgesellschaft in die Forschungs- und Erprobungsphase einzubinden und mit den Verantwortlichen der bestehenden föderalen Justiz-Digitalisierungsvorhaben des Bundes und der Länder Synergien zu heben. Uns ist bewusst, dass wir hier auf vielfältige unterschiedliche Herausforderungen stoßen werden. Wir möchten diesen Herausforderungen begegnen und mit unseren Projekten zu einer zeitgemäßen Justizorganisation (Governance) im föderalen Deutschland beitragen.
Wie wir arbeiten
Wie in allen unseren Projekten gilt: Wir arbeiten interdisziplinär. Unsere Teams bestehen aus UX- und UI-Designer:innen, Software-Entwickler:innen, Produktmanager:innen und in diesem Fall: Rechtsexpert:innen. So bringen wir unterschiedliche Perspektiven zusammen, um der Komplexität in den Projekten mit dem BMJ erfolgreich zu begegnen. Unser Vorgehen ist agil und iterativ: Hypothesen und Lösungsideen werden frühzeitig und regelmäßig mit der Realität konfrontiert, um daraus Schlüsse zu ziehen und Anpassungen vornehmen zu können.
Dabei ist uns Transparenz sehr wichtig. Das beginnt bei der Beauftragung – die Verträge mit dem BMJ für diese Erforschungs- und Erprobungsphase können hier eingesehen werden – und endet mit der Veröffentlichung unserer Arbeitsergebnisse als Open-Source-Projekt. Auch möchten wir sukzessive Lösungsideen, Hürden und unsere sonstigen Learnings teilen und mit dem Justiz-Ökosystem diskutieren. Damit möchten wir den Dialog und die Zusammenarbeit ebenenübergreifend mit Expert:innen und mit der Zivilgesellschaft ermöglichen. Das dahinter liegende Konzept nennen wir „Working in the open“.