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Blonde Frau mit einem Zopf steht nach vorne gerichtet mit dem Geischt zu einem Whiteboard mit gelben Zetteln und befestigt diese am Board.

Vom Sprint zur Phase: Ergebnisse aus dem Discovery Sprint „Zugang zum Recht“

Anfang Februar sind wir gemeinsam mit dem Bundesjustizministerium (BMJ) in unseren ersten Discovery Sprint gestartet: Im Rahmen der Erkundungsphase „Zugang zum Recht: Durch Digitalisierung Verbraucherrechte stärken und die Justiz entlasten“ sollten zwei augenscheinlich ähnlich gelagerte Anliegen gemeinsam evaluiert werden (siehe auch unser Blog-Beitrag vom 27.01.2022).

Zum einen das Vorhaben, Bürger:innen mit Hilfe digitaler Mittel einen einfachen, niedrigschwelligen und fairen Zugang zum Recht zur Verfügung zu stellen, über den sie zivilrechtliche Ansprüche durchsetzen können. Zum anderen das Bestreben, die Justiz – also konkret Gerichte und deren Mitarbeitende – zu entlasten. Beispielsweise bei standardisierten Prozessen durch eine digitale Verfahrensführung.

Der Discovery Sprint ist Teil der übergeordneten Strategie „Digitalpakt der Justiz“, die im Koalitionsvertrag verankert ist und seit dem Regierungswechsel vom BMJ vorangetrieben wird.

Was wir uns vorgenommen hatten

Bevor wir zu den Ergebnissen des Sprints kommen, gehen wir kurz auf die Ziele und Herangehensweise ein, die wir gemeinsam mit unseren Projektpartner:innen aus dem BMJ im Vorfeld definiert hatten.

Wir legten drei Ziele fest:

  • Ziel 1: Schnell ein gemeinsames Verständnis für den Projektkontext, die Herausforderungen und Chancen schaffen.
  • Ziel 2: Eine anfängliche Konzeption und Planung der Produktentwicklung anstoßen – insbesondere einer allerersten funktionsfähigen Produktversion (auch Minimum Viable Product bzw. MVP) .
  • Ziel 3: Für ein mögliches gemeinsames Folgeprojekt die Bedingungen und Erfolgsfaktoren für ein iteratives Vorgehen und Nutzerzentrierung sondieren.

Es wurde vereinbart, ergebnisoffen vorzugehen. Mögliche bereits im Raum stehende Lösungsideen sollten zwar berücksichtigt, aber ebenso kritisch hinterfragt werden. Dementsprechend sollten…

  • …Unterlagen aus Vorprojekten erschlossen und Sekundärforschung durchgeführt werden.
  • …Umfeldgespräche und qualitative Interviews mit Projektpartner:innen und Expert:innen geführt werden, um rechtliche, technische, organisatorische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen sowie Anforderungen zu analysieren.
  • …Perspektiven von Bürger:innen mit Berührungspunkten zum Thema Recht und der Justizpraxis in bisherige Überlegungen eingebracht werden.

Wie wir vorgegangen sind

Die gemeinsam mit dem BMJ erarbeitete Problembeschreibung bildete den Ausgangspunkt für den Discovery Sprint. Im Fokus: die Nutzer:innen der potenziellen Lösung.

Das zugrundeliegende Problem:

  • Viele Bürger:innen machen ihr Recht nicht geltend, weil sie den Service „Ziviljustiz“ nicht nutzen – die Ziviljustiz hat ein Kommunikations-, Zugangs- und Modernisierungsdefizit.
  • Bürger:innen kommen nicht an einfach verständliche und relevante Rechtsinformationen. Sie müssen viel Zeit, Geld und Nerven investieren, weil sie z. B. selbstständig schriftlich Klage einreichen, physisch in eine Rechtsantragstelle gehen oder Anwält:innen beauftragen müssen.
  • Bürger:innen betreiben diesen Aufwand oftmals erst gar nicht oder suchen teilweise Hilfe bei der Privatwirtschaft, um ihre Ansprüche durchzusetzen.

Um ein breites und tiefes Verständnis der Bedürfnisse der einzelnen Nutzergruppen zu erhalten, wurden rund zwei Dutzend qualitative Interviews mit Bürger:innen sowie mit Expert:innen aus verschiedenen Rechts-Bereichen geführt. Darunter Justizmitarbeitende aus der Gerichtspraxis (z. B. Richter:innen, Rechtspfleger:innen oder weitere Mitarbeitende in Geschäftsstellen), IT-Justiz-Expert:innen (z. B. technische Digitalisierungstreiber:innen der Justiz), Mitarbeitende aus Justizverwaltungen aus Bund und Ländern, aber auch Akteur:innen aus der Privatwirtschaft (bspw. aus Legal-Tech-Unternehmen).

Parallel dazu führten wir eine Sekundärforschung – also das Bedienen an Quellen und Informationen, die bereits von anderer Seite erhoben wurden – durch, was eine objektive und vielseitige Betrachtung der Problembeschreibung ermöglichte. Für die Sekundärforschung fokussierten wir uns auf Studien und Modernisierungs- bzw. Reformvorschläge sowie Statistiken aus der Justiz, mögliche Anwendungsfälle und Inspirationen aus dem Privatsektor. Wir verschafften uns einen Einblick in das Ökosystem „Justiz“, die Arbeit des BMJ und der Länder sowie deren Verhältnis zueinander. Wir untersuchten die technische Justiz-Systemlandschaft und führten eine Einordnung rechtlicher Grundlagen und Hürden durch.

Ebenfalls in unsere Überlegungen eingeflossen sind die Ergebnisse aus zwei Vorprojekten. Zum einen aus dem Projekt „Digitale Klagewege“, welches im Mai 2021 gemeinsam mit dem BMJ im Rahmen unseres Tech4Germany Fellowship-Programms gestartet wurde. Zum anderen aus der Studie „Chatbot in Rechtsantragstellen“, die ebenfalls im Jahr 2021 vom BMJ und der Boston Consulting Group (BCG) durchgeführt wurde.

Welche Ziele wir erreicht haben

Drei Ziele hatten wir vor Start des Discovery Sprints gemeinsam mit unseren Projektpartner:innen aus dem BMJ definiert.

Ziel 1: Schnell ein gemeinsames Verständnis des Projektkontextes, der Herausforderungen und Chancen schaffen.

Ziel erreicht? Ja.

Auf Basis der Erkenntnisse aus den Interviews und mit den Ergebnissen der Sekundärforschung wurde eine User Journey erstellt, die einzelne Schritte, Ereignisse und Emotionen von Bürger:innen darstellt, die sich mit einer zivilrechtlichen Fragestellung beschäftigen. Gleichzeitig wurden dabei die Berührungspunkte zu Justizmitarbeitenden erfasst und deren Perspektive eingebaut. Hierdurch war es möglich, Hürden und Chancen der aktuellen – sehr komplexen – User Journey zu erkennen und Rückschlüsse auf potenzielle Lösungsräume zu schließen.

Eine visualisierte User Journey, die einzelne Schritte, Ereignisse und Emotionen von Bürger:innen darstellt, die sich mit einer zivilrechtlichen Fragestellung beschäftigen. Die Darstellung zeigt die Komplexität der User Journey.

Auf diese Weise wurden insgesamt fünf funktionale Lösungsräume eingegrenzt, in denen eine wertschaffende digitale Lösung erprobt werden muss, um Bürger:innen wirklich zu befähigen, Rechtsprobleme und Konflikte zu lösen sowie die Justiz zu entlasten. Potenzial für große Zielgruppen bieten folgende Lösungsräume:

  • Informationen abwägen
  • Entscheidung befähigen
  • Anliegen einreichen
  • Kommunikation und Handeln ermöglichen.
Eine Grafik beschreibt die vier eingegrenzten Lösungsräume:  Informationen abwägen, Entscheidung befähigen, Anliegen einreichen sowie Kommunikation und Handeln ermöglichen.

Darauf aufbauend wurde mit dem BMJ eine gemeinsame Produktvision entwickelt. Die Produktvision betrachtet den erwünschten Zustand in fünf bis zehn Jahren.

Wir befähigen die Bürger:innen, ihr Recht geltend zu machen, indem wir ihnen Informationen zu ihren Rechten leicht zugänglich zur Verfügung stellen, Optionen begreifbar machen und niedrigschwellige, klare Handlungsmöglichkeiten anbieten.

Wir befähigen die Justiz, die Vorgänge und Verfahren digital, effizient und qualitativ hochwertig zu bearbeiten.

Ziel der Produktvision: das Vertrauen der Bürger:innen in die Demokratie in Deutschland zu stärken und sie in die Lage zu versetzen, die Möglichkeiten zu nutzen, die ihnen der Rechtsstaat bietet, um ihr Recht durchzusetzen. Ein erster Akzeptanztest in Form eines vereinfachten visuellen Entwurfs der Produktvision, der Bürger:innen in Interviews gezeigt wurde, verlief erfolgreich und weckte Interesse an der Lösung: Eine digitale Rechtsplattform, die als erste Anlaufstelle für unkomplizierten Zugang zum Recht und als Online-Angebot der Justiz dient.

Zusätzlich wurde eine Projektumfeldanalyse durchgeführt. Zum einen, um mit allen Stakeholdern vor Augen die Hürden für die Steuerung eines Folgeprojekts besser zu verstehen und zum anderen, um mit Hilfe einer groben Skizzierung des IT-Justizsystems technische Herausforderungen zu identifizieren.

Ziel 2: Eine anfängliche Konzeption und Planung der Produktentwicklung anstoßen – insbesondere eines minimal funktionsfähigen ersten Produkts, eines so genannten Minimum Viable Product (MVP).

Ziel erreicht? Nein.

Die grundlegende Idee des Discovery Sprints war es, die beiden sehr ambitionierten Anliegen – Online-Zugang zum Recht für Bürger:innen auf der einen und eine digitale Verfahrensführung zur Entlastung von Justizmitarbeitenden auf der anderen Seite – gemeinsam zu evaluieren und zusammenzubringen. Im Laufe unserer Arbeit zeigte sich jedoch, dass es methodisch ganz unterschiedliche Vorgehensweisen und Umsetzungspakete braucht, um die beiden Bestrebungen voranzubringen und die zugrundeliegenden Probleme zu lösen. Während die Idee eines Online-Zugangs zu Recht und Justiz ein umfassendes, für eine diverse und breite Nutzergruppe relevantes Vorhaben darstellt, handelt es sich bei der einer digitalen Verfahrensführung um ein sehr spezifisches und für eine deutlich kleinere Zielgruppe relevantes Vorhaben.

Die Folge: Die eigentlich für das Ende des Discovery Sprints erwünschte gemeinsame Vision für „das eine“ MVP konnte nicht entwickelt werden.

Dass dieses Ziel nicht erreicht wurde, ist jedoch kein Scheitern. Es war wichtig, einen ganzheitlichen und strategischen Blick auf das Thema zu werfen und zunächst breite Lösungsräume für reale Probleme zu identifizieren – ohne Vorfestlegung auf eine spezifische Lösung. Dies ist uns mit der User Journey gelungen. Es kann nun klar aufgezeigt werden, wo mit Hilfe digitaler Anwendungen ein tatsächlicher Mehrwert geschaffen werden kann, um die derzeitige Situation für Bürger:innen und Justizmitarbeitende zu verbessern. Und manchmal ist die wichtigste Erkenntnis ebendie, dass die initiale Produktidee so nicht so weiterverfolgt werden sollte.

Die identifizierten Lösungsräume bilden aber einen Anfangspunkt auf dem Weg zur Vision, die von all dem unberührt bleibt als übergeordneter Wunschzustand in fünf bis zehn Jahren.

Ziel 3: Für ein mögliches gemeinsames Folgeprojekt die Voraussetzungen für ein iteratives Vorgehen und Nutzerzentrierung sondieren.

Ziel erreicht? Jein.

Derzeit befinden wir uns mit dem BMJ in weiteren Gesprächen darüber, wie etwaige Folgeprojekte gestaltet werden können und welchen Fokus diese haben sollten. Hierfür hat der Discovery Sprint und das datenbasierte Vorgehen die erforderliche Diskussionsgrundlage geschaffen. So steht nun klar fest, dass sich die Folgeprojekte in der Ausrichtung und Zielsetzung unterscheiden. Einerseits gilt es einen Wirkungsbereich für einen MVP in einem der Lösungsräume zu erarbeiten, andererseits muss die Erprobung der rechtlichen Rahmenbedingungen für Online-Verfahren mit der Entwicklung von Prototypen begleitet werden, um so die digitale Praxistauglichkeit in einem Gesetzgebungsverfahren sicherzustellen. Entscheidend ist ebenso, dass relevante Akteur:innen des komplexen Ökosystems „Justiz“ in der Forschungs- und Erprobungsphase gehört und eingebunden werden, um nicht nur eine flächendeckende Akzeptanz herzustellen und den Erfolg der Lösung zu ermöglichen, sondern auch um auf bestehende Strukturen aufzubauen und notwendige Schnittstellen zu verstehen.

Learnings & unser weiteres Vorgehen

Die Zeitspanne, die ursprünglich für den Discovery Sprint angesetzt wurde, betrug vier bis sechs Wochen. Am Ende waren es sieben. In den interdisziplinären Teams aus Produktmanager:innen, Entwickler:innen, Designer:innen und Jurist:innen waren wir uns recht schnell nach dem Start einig, dass ein klassischer Sprint, wie man ihn aus der agilen Software-Entwicklung kennt, für ein so komplexes Vorhaben in diesem Zeitraum nur schwer zu realisieren ist. Dies werden wir für künftige Erkundungsphasen berücksichtigen, weshalb wir auch nicht mehr über Discovery „Sprints“, sondern Discovery-„Phasen“ sprechen.

Doch das wichtigste Learning ist einmal mehr: Unsere Projektpartner:innen und wir müssen ergebnisoffen an solche Vorhaben herangehen. Vorprojekte und deren Ergebnisse prägen das Denken und das Verständnis von Begriffen und können diesen Prozess erschweren. Ein gutes Beispiel ist der Chatbot: Er wurde im Vorfeld viel diskutiert, im Laufe der Erkundungsphase stellte sich jedoch heraus, dass es andere Werkzeuge gibt, welche die zugrundeliegenden Probleme effizienter und wirkungsvoller lösen können. Dies zeigt, dass es wichtig ist, nicht direkt in Lösungsdenken zu verfallen, sondern zunächst Probleme zu identifizieren, die sich in der realen Lebenswirklichkeit der Nutzer:innen wiederfinden. So steht ganz am Anfang: Was genau ist das Problem, für das wir eine Lösung schaffen und echten Mehrwert stiften wollen?

Iteratives Arbeiten bringt einen hohen Mehrwert, aber ebenso Konsequenzen mit sich. Es bedeutet konsequent zu priorisieren und sich auf ein Problem und/oder eine Zielgruppe zu einigen, für die man, wie in diesem Beispiel, anfangen möchte, den Zugang zum Recht zu verbessern. Dies kann schmerzhaft sein, da andere Probleme und Zielgruppen im ersten Schritt noch außen vor bleiben.

Für das weitere Vorgehen im Vorhaben „Zugang zum Recht: Durch Digitalisierung Verbraucherrechte stärken und die Justiz entlasten“, bedeutet dies:

  • Gemeinsam mit dem BMJ wollen wir eine Auswahl treffen, welche Lösungsräume priorisiert und als erstes in Angriff genommen werden.
  • Es braucht weitere Forschungs- und Erprobungsarbeiten, die gewährleisten, dass Lösungen auf Basis empirisch erhobener Daten und unter Berücksichtigung der bestehenden Justiz-Servicelandschaft des Bundes sowie der Länder iterativ entwickelt, getestet und spezifiziert werden können.
  • Die Implementierung der wertvollsten, von vielen gerne genutzten und schnell funktionsfähigen Lösungsidee kann dann in einer anschließenden Umsetzungsphase in einem Entwicklungs- und Betriebsmodell erfolgen, das iteratives und nutzerfreundliches Vorgehen sicherstellt.

Im Discovery Sprint wurde hierfür eine wertvolle Basis geschaffen. Wie genau es weitergehen kann, dazu befinden wir uns derzeit in Gesprächen mit dem BMJ. Auf unserem Blog werden wir weitere Updates teilen.


Portrait Foto der Autorin Stephanie Kaiser

Stephanie Kaiser

ist CPO beim DigitalService. Sie hat sich zuvor als Mitgründerin dreier Start-ups einen Namen gemacht und war von 2018 bis 2022 Mitglied im Digitalrat der Bundesregierung. 2015 und 2016 wurde sie unter die „50 most inspiring Women in Tech in Europe“ gewählt. Wenn sie nicht arbeitet, findet man sie radelnd oder rollernd auf Berlins Straßen. Zu ihrer eigenen Überraschung ist es der Ort, zu dem sie immer wieder zurückgekehrt ist, obwohl Paris, Ho Chi Minh Stadt, Warschau und Mailand auch schöne Orte zum Leben waren.


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