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Eine Hand hält ein Smartphone mit einer Website über Fluggastrechte. Der Text zeigt Infos zu Entschädigungen bei Flugproblemen. Im Hintergrund liegt ein Laptop mit blauem Aufkleber auf einem Tisch.

Fluggastrechte: Digitale Zivil­klage ist in der Umsetzung

Ab drei Stunden Verspätung kann ein Fluggast Anspruch auf eine Entschädigungszahlung haben. Das passiert in Deutschland oft – und macht daher „Fluggastrechte“ zum Ge­gen­stand eines der häufigsten Klageverfahren vor den Amtsgerichten. Die Erstellung und Einreichung der Klage soll bald an ersten Amtsgerichten digital möglich sein. Damit ist die gerichtliche Geltendmachung von Fluggastrechten das erste Fallbeispiel, das im Rah­men des Projekts „Zivilgerichtliches Online-Verfahren“ vom Bundesministerium der Justiz (BMJ) und dem DigitalService realisiert wird. Im Blogartikel zeigen wir, wie wir mit der Entwicklung und Erprobung des zivilgerichtlichen Online-Verfahrens neue Wege der Zu­sam­menarbeit zwischen Bund und Ländern gehen und erklären, warum für die Einführung von Online-Verfahren ein eigenes Erprobungsgesetz erforderlich ist.

Einfacher Prozess für Bürger:innen

Ausführlich haben wir die Hintergründe und Vorarbeiten zum Projekt „Zivilgerichtliches Online-Verfahren“ im Blogbeitrag „Digitalisierung von Klagever­fa­hren: Er­ste Schri­tte für zi­vil­ge­richt­li­che On­line-Ver­fah­ren“ dargestellt. Kurz zusammengefasst: Mit dem Projekt wollen wir Bürger:innen ermöglichen, ihre Ansprüche bei niedrigen Streitwerten nutzer­freund­lich, unkompliziert und digital in einem Online-Verfahren geltend zu machen. Als ersten Anwendungsfall haben wir Ansprüche im Bereich der Fluggastrechte ausgewählt, da diese Klagen bei den projektbeteiligten Pilotgerichten ein hohes Aufkommen haben. Wir entwickeln das Online-Verfahren iterativ und fokussieren uns zunächst exemplarisch auf einen gut standardisierten Typ von Klagen, um allgemeine Probleme zu identifizieren, die wir nach und nach lösen können. Bürger:innen sollen mit unserem Produkt zunächst bestimmte Ansprüche wegen deutlicher Verspätung oder Annullierung von Flügen bzw. Nichtbeförderung digital unterstützt bei den pi­lo­tierenden Amtsgerichten einklagen können.

Erster Produktlaunch: Der Vorab-Check für Fluggastrechte

Im Juli 2024 haben wir einen ersten Online-Dienst gelauncht: den Vorab-Check zum Thema Fluggastrechte.

Mit dem Vorab-Check können sich Bürger:innen schnell und einfach über Vor­aus­setz­ung­en für eine Entschädigung bei Flugverspätung, Annullierung oder Nicht­be­för­de­rung infor­mieren. Außerdem zeigt das Tool nach der Beantwortung einiger Fragen, in welcher Höhe eine Ausgleichszahlung – unter Berücksichtigung des angegebenen Start- und Zielflughafens – infrage kommen könnte.

Damit stellen wir ein leicht verständliches Informationsangebot zur Verfügung, das sich an Bürger:innen in der Phase vor der Einreichung einer Klage richtet.

Ist der Vorab-Check ausgefüllt, zeigt die Webseite service.justiz.de Bürger:innen mögliche Handlungsoptionen auf Basis des Vorab-Checks auf. Diese sind beispielsweise:

  • Fluggesellschaft zur Zahlung auffordern: Als eine Handlungsoption wird auf die Mög­lich­keit hingewiesen, die Fluggesellschaft zur Zahlung aufzufordern. Dies ist noch keine Klage, sondern ein erster Versuch, den Streitfall schnell und unkompliziert auß­er­ge­richtlich zu lösen.
  • Schlich­tungsverfahren starten: Weiterhin zeigt die Webseite die Option auf, ein Schlich­tungsverfahren zu starten, wobei auf die zuständigen Schlich­tungsstellen im Bereich der Fluggastrechte verlinkt wird. Im Schlich­tungsverfahren geht es um eine außergerichtliche Einigung zwischen Reisenden und dem für den Flug ver­ant­wort­lich­en Unternehmen.
  • Klage erheben: Schließlich wird auf die Möglichkeit verwiesen, eine Klage beim Gericht einzureichen. An dieser Stelle wollen wir bei den Bürger:innen ein Verständnis dafür schaf­fen, was eine Klage für sie bedeutet und welche Risiken sie eventuell birgt. Hierzu werden weitere Informationen zum Klageverfahren bereitgestellt.
Zwei Personen sitzen an einem Tisch in einem Büro und arbeiten konzentriert an Laptops. Im Vordergrund sind Pflanzen und ein Laptopbildschirm zu sehen, auf dem eine Website geöffnet ist.

Die digitale Klage

Wenn sich Bürger:innen für eine Klage entscheiden, dann sollen sie diese auch online erstellen und einreichen können. Dafür arbeitet unser Team aktuell an der Entwicklung eines digitalen Eingabesystems zur Erstellung und Einreichung einer Klage im Bereich der Fluggastrechte. Bereits im Vorab-Check eingegebene Daten werden dabei automatisch übernommen. Das Eingabesystem unterstützt die Bürger:innen bei der gerichtlichen Gelt­end­machung von Fluggastrechten, in dem es mit nutzerfreundlich und barrierefrei ge­stal­te­ten Abfragedialogen die für zulässige und schlüssige Klagen relevanten Informationen ermittelt und daraus versandreife Klageschriften erstellt.

In der aktuellen Entwicklungsstufe des Produkts wird am Ende des Abfragedialogs die Klageschrift als PDF-Dokument zur Verfügung gestellt. Bis eine direkte Schnittstelle von service.justiz.de an den elektronischen Rechtsverkehr entwickelt ist, wird das PDF in dieser Entwicklungsstufe vom Nutzenden im „Mein Justizpostfach – MJP“ manuell versandt. Die Klageschrift soll zukünftig direkt über service.justiz.de digital bei Gericht eingereicht werden können. Die dafür notwendigen Schnittstellen mit dem MJP werden derzeit konzipiert. Das MJP ermöglicht eine ver­schlüs­selte Kommunikation mit der Justiz. Bei der Einrichtung eines MJP müssen sich die Nutzende mit der BundID identifizieren. Dabei muss das BundID-Konto über die Online-Funktion des Personalausweises (eID) angelegt werden.

Das erste Reallabor für die Justiz

Mit dem zivilgerichtlichen Online-Verfahren soll eine neue Verfahrensart in der Zivilge­richts­barkeit geschaffen werden, die auf den verstärkten Einsatz digitaler Kommunika­tions­technik setzt. Vor einer flächendeckenden Einführung soll dieses Verfahren zunächst an ausgewählten Amtsgerichten für einen begrenzten Zeitraum im Echtbetrieb erprobt und evidenzbasiert weiterentwickelt werden. Dies ist auf der Grundlage des geltenden Zi­vil­prozessrechts nicht möglich. Der hierfür notwendige rechtliche Rahmen soll durch ein „Erprobungsgesetz“, das Gesetz zur Entwicklung und Erprobung eines Online-Verfahrens in der Zivilgerichtsbarkeit, geschaffen werden.

Der Gesetzentwurf greift das Instrument der „Reallabore“ auf. Es sollen Test- und Experimentierräume eröffnet werden, in denen innovative Technologien zeitlich befristet und unter realen Bedingungen erprobt und daraus Erkenntnisse für eine dauerhafte Regulierung gewonnen werden können. Für die Erprobung und Evaluierung neuer digitaler Technologien, Kommunikationsformen und Verfahrensabläufe in der Zivilgerichtsbarkeit soll ein neues Buch 12 in der Zivilprozessordnung (ZPO) geschaffen werden. Das In­stru­ment der Erprobung im Rahmen von Reallaboren ist ein neuer Regelungsansatz im Bereich der Justiz. Er trägt den Erfordernissen einer agilen und nutzerzentrierten Pro­dukt­ent­wick­lung sowie den Anforderungen der heterogenen IT-Landschaft der Justiz Rechnung.

Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Entwicklung und Erprobung eines Online-Verfahrens in der Zivilgerichtsbarkeit (Bundestagsdrucksache 20/13082) wird derzeit im Deutschen Bundestag beraten.

Zwei Personen mit Laptopcomputern in einem Raum, an dem ein Schild hängt, das in englischer Sprache sagt „Interview-Raum“.

Bund-Länder-Zusammenarbeit: ein neuer Weg

Neue Wege gehen wir im Projekt „Zivilgerichtliches Online-Verfahren“ auch bei der Bund-Länder-Zusammenarbeit. Nicht nur die Erprobung in Reallaboren oder der iterative Ent­wick­lungsansatz, sondern auch die Art der Kooperation zwischen BMJ, DigitalService und der Landesjustiz im Projekt ist also neu. Dies ist auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass der Bund die digitalen Eingabesysteme entwickelt und den Ländern zur Anwendung an ihren Gerichten bundeseinheitlich bereitstellt.

Ziel des Entwicklungsteams ist es, sicherzustellen, dass die Inhalte unserer Online-Dienste fachlich korrekt und rechtssicher sind. Deshalb arbeiten das BMJ und der DigitalService auf Grundlage einer partizipativen Produktentwicklung eng mit den Landesjustizverwaltungen der Partnerländer zusammen, die uns eine intensive Prax­is­be­teiligung ermöglichen. Die Einbeziehung der justizfachlichen Expertise von Richter:innen in die Produktentwicklung hat sich als sehr effektiv und gewinnbringend herausgestellt.

Wir haben den direkten Kontakt zu dieser Umsetzungsebene gesucht: Schnell haben sich Richter:innen gefunden, die mit uns aktiv an der Neugestaltung des Fluggastrechte-Verfahrens arbeiten.

Unsere Expertengruppe für das Thema Fluggastrechte begleitet uns mit ihrer juristischen Expertise kontinuierlich in der Produktentwicklung und unterstützt uns bei konkreten Herausforderungen im Projekt. Die Expert:innen begutachten zum Beispiel Formu­lie­run­gen im Online-Dienst auf Verständlichkeit und fachliche Korrektheit. Oder auch dahin gehend, ob die Abfragen aus Sicht der Nutzenden wirklich notwendig sind und in welcher Reihenfolge sie sinnvoll angeordnet werden können.

Konkret arbeiten wir gemeinsam mit digitalen Whiteboards, auf denen Screenshots der einzelnen Abfragen des Eingabesystems dargestellt sind. Die Richter:innen können so einfach ihre Anmerkungen an der jeweiligen Eingabe- und Abfrageseite teilen.

Die direkte, unmittelbare Zusammenarbeit mit der Expertengruppe ermöglicht eine kontinuierliche und schnelle Iteration unseres Produkts. Dank des Engagements und der persönlichen Motivation der Richter:innen können auch kurzfristig Fragen, die sich bei der Produktentwicklung ergeben, fachlich eingeordnet und geklärt werden.

Ausblick: von Fluggastrechten zu allgemeinen Zahlungsklagen

Neben den Fluggastrechten entwickeln wir aktuell digitale Eingabesysteme für allgemeine Zahlungsklagen in der Zuständigkeit der Amtsgerichte. Auch dafür wollen wir wieder mit einer kleinen Gruppe von Expert:innen aus den Amtsgerichten zusammenarbeiten. Über die nächsten Schritte berichten wir wie gewohnt im Blog.


Porträtfoto des Autors Dr. Philip Scholz

Dr. Philip Scholz

ist Ministerialrat und leitet seit 2019 das Referat Legal Tech und Zugang zum Recht im Bundesministerium der Justiz. Er ist seit 2010 im Ministerium tätig und war dort zunächst Referent in den Referaten für Datenschutzrecht, Internationales Privatrecht und Ausländerrecht sowie mehrere Jahre Pressesprecher. Von 2018 bis zu seiner jetzigen Tätigkeit war er Leiter des Ministerbüros. Er studierte Rechtswissenschaften in Heidelberg und absolvierte sein Referendariat in Freiburg, Berlin und Toulouse. Im Jahr 2003 wurde er mit einer Arbeit zum Datenschutz im E-Commerce an der Universität Kassel promoviert.

Valentin Münscher

arbeitet seit Juni 2023 als Senior Transformation Manager beim DigitalService. Zuvor hat er über 15 Jahre in unterschiedlichsten Rollen für NGOs und in der Politik eng mit vielen verschiedenen Ebenen der Verwaltung zusammengearbeitet. Er begleitete Institutionen bei der eigenen strukturellen Digitalisierung und beschäftigte sich frühzeitig mit der Nutzung digitaler Medien in der Bildung. Valentin hat zwei Kinder und ist deswegen oft auf Berliner Spielplätzen unterwegs. Und er ist eine wandelnde Jukebox, die für jede Situation den passenden Song kennt.


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