Durch digitaltaugliche Gesetzgebung die Voraussetzungen für einen digitalen Staat schaffen
Ob das Gleichberechtigungsgesetz von 1958 oder die „Ehe für alle“ von 2017: Die Geschichte der Bundesrepublik ist geprägt von großen Reformen und Wandel. Kaum verändert hat sich hierbei jedoch die Art und Weise, wie Gesetze hierzulande erarbeitet werden. Kein Wunder, dass sie im Zeitalter der Digitalisierung an ihre Grenzen stößt. Zentrales Element für das Ziel einer „besseren Rechtsetzung“ soll in dieser Legislatur der in der Digitalstrategie formulierte Digitalcheck werden. Das Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) hat uns nun damit beauftragt, die konzeptionellen Grundlagen für dieses wichtige Instrument einer digitaltauglichen Gesetzgebung zu erarbeiten.
Mit seit Jahrzehnten mehr oder weniger gleich gebliebenen Prozessen und Methoden stehen heutzutage kaum zeitgemäße Instrumente zur Erarbeitung passgenauer, wirksamer Gesetze für eine zunehmend digitale Gesellschaft zur Verfügung. Diese Beobachtung bestätigte auch der Normenkontrollrat (NKR) – das unabhängige Beratungsgremium der Bundesregierung – in einem Gutachten von 2019. Unter den heutigen Bedingungen wird es immer schwieriger, in kurzer Zeit sowohl juristisch korrekte, als auch wirksame und praxistaugliche Gesetze zu entwickeln. Das Ergebnis: Gesetze können ihre angestrebte Wirkung nur teilweise entfalten, gar nicht wie vorgesehen umgesetzt werden oder führen zu unerwartet hohen Kosten und Aufwänden für Staat, Wirtschaft und Gesellschaft.
Digitaltauglichkeit als Ziel des Koalitionsvertrags
Durch eine digitaltaugliche Gesetzgebung werden die grundlegenden Voraussetzungen für einen digitalen Staat und damit bessere Leistungen und schnellere Verfahren für jede:n Bürger:in geschaffen. Langfristig kann sie zu mehr Inklusion, gerechteren Verfahren und einer Stärkung der staatlichen Handlungsfähigkeit beitragen und so das Vertrauen in unsere Demokratie fördern.
Aus diesem Grund hat sich die Bundesregierung bereits im Koalitionsvertrag das Ziel gesetzt, die Qualität der Gesetzgebung zu verbessern und „die Möglichkeit der digitalen Ausführung“ von Gesetzen durch die Einführung eines sogenannten „Digitalcheck“ bereits im Gesetzgebungsprozess zu prüfen.
Ziel ist es, durch eine digitaltaugliche Gesetzgebung eine Grundlage für die umfassende Nutzung des Potenzials digitaler Lösungen zu schaffen und einen direkten Mehrwert für Bürger:innen, Organisationen und natürlich auch für die Verwaltung zu generieren. Mit anderen Worten: Der Digitalcheck soll sicherstellen, dass die Gesetzgebung der digitalen Gesellschaft entspricht, in der wir heute in Deutschland leben. Das BMI hat gemäß Auftrag aus dem Koalitionsvertrag und der Digitalstrategie die Federführung für das Projekt übernommen.
Die Entwicklung des Digitalcheck ist eng in die vielfältigen Vorarbeiten der Bundesregierung bezüglich einer „besseren Rechtsetzung“ eingebettet und kann gezielt auf internationalen Erfahrungen („Regulatory policy“ der OECD oder „Better Regulation: why and how“ der EU) sowie auf Best Practices aus anderen Ländern wie beispielsweise Dänemark aufbauen.
Unsere Arbeit als DigitalService wird in der ersten Projektphase darin bestehen, die konzeptionellen Grundlagen zu erarbeiten, die Voraussetzungen und Bedürfnisse der diversen Stakeholder zu analysieren und passgenaue Ansätze zur Umsetzung durch die Legist:innen – die Verfasser:innen von Gesetzestexten – zu erarbeiten. Dafür können wir auf Vorarbeiten im Rahmen des Work4Germany Projekts „Re-Design der ministeriellen Gesetzesvorbereitung“ aufbauen, das bereits im vergangenen Jahr gemeinsam mit Legist:innen aus verschiedenen Ressorts Hürden und Lösungsansätze für eine bessere Rechtsetzung identifiziert hat.
Neue Prozesse & Methoden statt Checklisten
Eine digitaltaugliche Gesetzgebung ist dabei ein in doppelter Hinsicht komplexes Unterfangen.
Zum einen müssen die Rechtsvorschriften den Anforderungen der Digitalisierung sowie den Bedürfnissen aller von den Gesetzen Betroffenen gerecht werden. Dies ist entscheidend, um unter anderem durch den Verzicht auf Schriftformerfordernisse oder andere analoge Nachweispflichten einen durchgängig digitalen und nutzerfreundlichen Vollzug, beispielsweise durch Behörden, Unternehmen oder Bürger:innen, sicherzustellen.
Zum anderen müssen die Legist:innen in den Ministerien den sich durch einen digitalen Vollzug ergebenden Gestaltungsraum im Prozess der Erarbeitung neuer Gesetze effektiv nutzen können. Das heißt, sie benötigen die geeigneten Kompetenzen, Methoden und Prozesse, um digitaltaugliche Regelungen zu entwerfen und im Gesetzestext abzubilden.
Entsprechend gilt es, den gesamten Prozess ganzheitlich in den Blick zu nehmen. Hierfür haben wir in einem ersten Schritt bereits gemeinsam mit dem BMI den Vorgang der ministeriellen Gesetzesvorbereitung in all seinen einzelnen Phasen aufgeschlüsselt und visualisiert, um bestehende Herausforderungen und Bedarfe zu analysieren.
Ausschnitt aus dem Prozess der ministeriellen Gesetzesvorbereitung bis zur abschließenden Abstimmung im Bundestag und Bundesrat sowie der Verkündung.
Digitaltauglichkeit entscheidet sich ganz zu Beginn
Eine erste Erkenntnis: Die Anforderungen und Möglichkeiten eines digitalen Vollzugs müssen möglichst frühzeitig bei der Erarbeitung neuer Regelungen und Rechtsvorschriften berücksichtigt werden. Bereits bei der Analyse des Problemraums, den das Gesetzesvorhaben adressiert, und der Entwicklung von Regelungsansätzen müssen sowohl die jeweiligen Akteur:innen des Vollzugs als auch Digital-Expert:innen wie Entwickler:innen, Designer:innen und Produktmanager:innen einbezogen werden, um die Regelung so zu gestalten, dass eine nutzerorientierte digitale Umsetzung ermöglicht wird. Gerade die Zusammenarbeit in interdisziplinären Teams ermöglicht es, einen optimalen und digitaltauglichen Regelungsansatz zu finden.
Wichtig ist, dass der von der Bundesregierung gewünschte Digitalcheck nicht bloß in eine weitere Checkliste oder einen zusätzlichen Leitfaden mündet, den die Legist:innen bei der Arbeit an neuen Gesetzen „abhaken“ müssen. Vielmehr geht es darum, passgenaue Strukturen, Prozesse und Methoden zu finden (bspw. zur Visualisierung oder Identifikation von Betroffenen), welche sie befähigen, ihre Regelungsvorhaben von Anfang an unter Berücksichtigung digitaler Möglichkeiten zu entwickeln.
Warum wir das Projekt übernommen haben
Unsere Mission als DigitalService ist:
Wir schaffen digitale Anwendungen des Staates, die die Bedürfnisse der Bürger:innen in den Mittelpunkt stellen und besser für alle funktionieren.
Allerdings ist der Digitalcheck keine digitale Anwendung im klassischen Sinn. Warum also übernehmen wir mit unserer Produkteinheit dieses Projekt?
Als zentrale Digitalisierungseinheit des Bundes sind wir selbst unmittelbar mit der digitalen Umsetzung von Regelungen wie beispielsweise der Grundsteuerreform befasst. Wir sind dadurch besonders nah an den komplexen Fragen des digitalen Vollzugs und können nicht nur die Herausforderungen und Bedarfe gut verstehen, sondern wissen auch um die besondere Bedeutung einer von Beginn an digitaltauglichen Gesetzgebung. Werden für neue Regelungen die Möglichkeiten einer digitalen Ausführung von Anfang an mitgedacht, erleichtert dies die Entwicklung und Einführung wertstiftender digitaler Lösungen enorm.
Durch den Digitalcheck können wir die Bundesregierung dabei unterstützen, die richtigen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für einen digitalen – und im besten Fall proaktiven – Staat zu schaffen, der beispielsweise durch die Verknüpfung von Daten oder durch Automatisierung Verfahren beschleunigt und auf ein neues Verhältnis von Staat und Bürger:innen abzielt. Auf diese Weise kann ein digitaler Staat zu gerechteren Verfahren beitragen, das Leben der Bürger:innen beispielsweise durch eine Abkehr von komplizierten Antragsverfahren hin zur automatischen Gewährung von Leistungen spürbar vereinfachen und das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Staates bestärken.
Unser Ansatz: Interdisziplinär, nutzerzentriert & iterativ
Auch bei der Entwicklung und Umsetzung des Digitalcheck ist unser Vorgehen durch die drei wesentlichen Prinzipien unserer Arbeitsweise gekennzeichnet:
Interdisziplinäre Zusammenarbeit (über Ressortgrenzen hinweg)
Koordiniert durch den DigitalService wurde eine interministerielle und interdisziplinäre Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, die die inhaltliche und methodische Entwicklung des Digitalcheck begleitet. Diese Gruppe besteht aus Vertreter:innen verschiedener Ressorts (aktuell: Bundesministeriums des Innern und für Heimat, Bundesministerium der Justiz, Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Bundesministerium der Finanzen, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend) und des Normenkontrollrates (NKR). Gemeinsam werden wesentliche Fragen zum Konzept und zur Umsetzung einer digitaltauglichen Gesetzgebung diskutiert und über das weitere Vorgehen entschieden. Der NKR unterstützt als unabhängiges Gremium die Bundesregierung bei ihren Zielen für eine bessere Rechtsetzung und prüft auf Basis des 2022 geänderten NKR-Gesetzes auch die Durchführung des Digitalcheck durch die Ressorts.
Die interdisziplinäre und ressortübergreifende Zusammenarbeit ist besonders wichtig, um zum einen auf das umfangreiche Fachwissen aus den einzelnen Ressorts zurückzugreifen, aber auch um die unterschiedlichen Rahmenbedingungen und Anforderungen der variierenden Gesetzgebungsvorhaben der Ressorts angemessen zu berücksichtigen. Zudem werden neue Formen der Zusammenarbeit geübt und das im Koalitionsvertrag mehrfach festgehaltene Ziel der Bundesregierung einer „ressort- und behördenübergreifenden agilen“ Zusammenarbeit umgesetzt.
Nutzerzentrierte Entwicklung
Für die nutzerzentrierte Entwicklung des Digitalcheck greifen wir auf ein umfangreiches Portfolio an Research-Methoden zurück: Wir arbeiten in Fokusgruppen, führen Interviews sowie Beobachtungen und Workshops durch, nehmen an Schulungen teil. So können wir die entwickelten Hypothesen und Ideen kontinuierlich testen und optimieren.
Wir fokussieren uns auf drei Bedarfsgruppen:
- Akteur:innen, die mit der (digitalen) Ausführung von Gesetzen betraut sind: Welchen Herausforderungen stehen z. B. Behörden, Kommunen oder Unternehmen im Rahmen des digitalen Vollzugs gegenüber?
- Legist:innen während der ministeriellen Gesetzesvorbereitung: Wie kann der Digitalcheck effektiv in die Arbeitsprozesse der Legist:innen eingefügt werden, damit dieser im Arbeitsalltag angewendet wird?
- Referent:innen und Mitglieder des Normenkontrollrats, die den gesetzlichen Auftrag zur Prüfung der Durchführung des Digitalcheck erfüllen: Wie kann der Digitalcheck im Sinne eines gemeinsamen Lernens von NKR und Bundesregierung zu besseren Gesetzen beitragen?
Iteratives Vorgehen
Ähnlich wie in der klassischen digitalen Produktentwicklung wird auch der Digitalcheck iterativ entwickelt und dessen Nutzung in der Praxis der Erarbeitung von neuen Regelungen kontinuierlich evaluiert. Bereits die Entwicklung einer Beta-Version des Digitalcheck wird eng durch die Legist:innen in den Ressorts begleitet. So können Methoden getestet und Erfahrungen aus der Praxis reflektiert werden.
Die Erfahrungen aus der Nutzung der Beta-Version durch Legist:innen und den Normenkontrollrat werden fortlaufend ausgewertet und gemeinsam mit weiteren relevanten Erkenntnissen – beispielsweise aus der Verprobung neuer Methoden und Unterstützungsangebote und die Begleitung von konkreten Gesetzgebungsvorhaben – in nachfolgende Iterationen des Digitalcheck eingebracht. Dieses iterative Vorgehen wird kontinuierlich fortgeführt.
Im November 2022 wurde die Beta-Version des Digitalcheck veröffentlicht und im Rahmen verschiedener Informationsveranstaltungen allen Ressorts vorgestellt. Im Januar 2023 ist zudem eine Roadshow mit Workshops in den einzelnen Ministerien geplant.
Aktive Mitarbeit erwünscht
Die Entwicklung des Digitalcheck ist ein erster Schritt hin zu einer digitaltauglichen Gesetzgebung. Damit der Digitalcheck einen wirksamen Beitrag leisten kann, kommt es entscheidend auf die breite Umsetzung und die kontinuierliche Evaluation seiner Wirkung auf die Gesetzgebung an. Um möglichst viele Eindrücke und Erkenntnisse sammeln zu können, möchten wir neben den bereits involvierten Personen weitere Akteur:innen miteinbeziehen.
Wir suchen zum einen nach Legist:innen, die Teil des ressort- und behördenübergreifenden Netzwerks zur Weiterentwicklung des Digitalcheck werden möchten. Zum anderen möchten wir in den direkten Austausch mit den vielfältigen Stakeholdern gehen, die von der Einführung neuer Regelungen betroffen und für deren (digitale) Umsetzung verantwortlich sind. Von Ländern und Kommunen, Behörden unterschiedlicher Ebenen bis hin zu Unternehmen interessiert uns, welche Erfahrungen bereits beim digitalen Vollzug von Gesetzen gesammelt wurden und was die Perspektiven auf eine digitaltaugliche Gesetzgebung sind.
Wir freuen uns daher sehr auf und über einen Erfahrungsaustausch, Fragen und Anregungen sowie das Interesse an einer aktiven Mitarbeit bei der Entwicklung des Digitalcheck. Die Beta-Version des Digitalcheck und weitere Informationen sind bereits jetzt auf der Website onlinezugangsgesetz.de/digitalcheck zu finden.
Unser Digitalcheck Team ist per E-Mail unter digitalcheck@digitalservice.bund.de zu erreichen.
Hinweis: Unsere Blogbeiträge spiegeln den Projektstand zum jeweiligen Veröffentlichungszeitpunkt wider. Je nach Projekt können sie durch die kontinuierliche und iterative Weiterentwicklung inhaltlich an Aktualität verlieren.