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Person an einem Tisch mit Laptop-Computer auf dem stark vergrößert gelb auf schwarz eine Liste zu Amtsgerichtsbeantragungen zu sehen sind

Kein digitales Angebot ist barrierefrei – wie wir das ändern wollen

Kein digitales staatliches Angebot in Deutschland war Ende 2021 vollständig barrierefrei. Das stellte der Bericht der Bundes-Überwachungsstelle für Barrierefreiheit an die Europäische Kommission fest. Rund 2.000 staatliche Angebote wurden untersucht und nicht ein einziges erfüllte sämtliche Anforderungen an digitale Barrierefreiheit. Gerade schließen also zahlreiche staatliche Angebote Nutzende aus.

Dabei müssen laut Behindertengleichstellungsgesetz alle Webseiten und mobilen Anwendungen von öffentlichen Stellen barrierefrei gestaltet sein. Auch das Grundgesetz besagt, dass niemand wegen einer Behinderung benachteiligt werden darf. In diesem Blogpost zeigen wir, welche Bemühungen der DigitalService unternimmt, um Barrierefreiheit von Beginn an mitzudenken.

Um die Studie besser einordnen zu können, ist zunächst eine Definition von Digitaler Barrierefreiheit notwendig. Beim DigitalService verstehen wir den Begriff wie folgt: „Digitale Barrierefreiheit beschreibt den Grad, in welchem ein Angebot von verschiedenen Personen in unterschiedlichen Nutzungskontexten gleichermaßen effektiv, effizient und zufriedenstellend genutzt werden kann. Angebote müssen unabhängig von Behinderungen, Situationen und Technologien ebenso nutzbar sein – für Menschen mit auditiven, kognitiven, physischen und visuellen Einschränkungen. Mit unterschiedlichen Eingabesystemen und Technologien, die sie nutzen, muss eine Webseite für Personen mit eingeschränktem Sehvermögen in gleichem Maße zugänglich sein wie für Personen mit Lernschwierigkeiten.“

Deshalb stellen wir uns bei der Entwicklung all unserer digitalen Produkte und Services von Beginn an unter anderem folgende Fragen: Wie funktioniert die Webseite, wenn sie mit 300 prozentiger Vergrößerung besucht wird? Wie lässt sich ein Online-Service ausschließlich mit der Tastatur bedienen? Wie gut ist das Angebot zu verstehen und zu navigieren, wenn es nur über Sprachausgabe und -eingabe bedient wird?

Barrierefreiheit betrifft nicht nur Menschen mit dauerhaften Behinderungen

Wir sind uns bewusst: Die meisten von uns sind nur zeitweilig nicht behindert. Je älter ein Mensch ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit einer Behinderung. In der Altersgruppe über 65 Jahren haben mehr als die Hälfte eine Behinderung. Nur etwa drei Prozent der Behinderungen sind jedoch angeboren. Knapp 97 % treten erst durch Krankheiten oder Unfälle im Laufe des Lebens auf. Eine von vier Personen in der EU hat eine Behinderung. In Deutschland sind es knapp ein Drittel. Etwa jede zehnte Person in Deutschland hat einen Schwerbehindertenausweis.

Behinderungen sind also so vielfältig, wie Menschen es sind. Und Behinderungen sind nicht immer etwas Dauerhaftes. Für Personen, die einen Gips tragen, ist die Tastatursteuerung nur für einige Wochen zwingend erforderlich. Die vom Krebs geheilte Person war lediglich in den Monaten der Chemotherapie kognitiv eingeschränkt. Die Eltern mit schlafendem Baby sind nicht für immer auf die Untertitel beim Film schauen angewiesen. Behinderungen betreffen viele Nutzende. Doch wenn wir Dienste für Menschen mit Behinderungen bewusst gut gestalten und entwickeln, schaffen wir auch bessere Angebote für Menschen mit vorübergehenden und situativen Einschränkungen.

„Gestalte nicht für fiktive Durchschnittsnutzer“, lautet ein Mantra beim DigitalService. Ideale Nutzende, die gut sehen, gut hören, gut lesen, schreiben, rechnen können, in der Lage sind, sowohl eine Maus als auch einen Touchscreen zu bedienen und Deutsch auf C2-Level verstehen, sind rar. Statistisch gibt es solche Nutzende aber nur selten. In unserer Nutzerforschung vor Ort an Gerichten trafen wir zuletzt etwa Menschen mit Leseschwäche, Mobilitätseinschränkungen und anderen Erstsprachen als Deutsch. Sie alle sind aber auf die Justiz-Services, die wir entwickeln, gleichermaßen angewiesen.

Barrierefreiheit müssen alle in der Organisation verstehen

Zu digitaler Barrierefreiheit tragen alle beim DigitalService bei – wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise. Das unterstreichen wir so früh wie möglich: Alle neuen Kolleg:innen durchlaufen als festes Modul unserer mittlerweile zwölfteiligen Onboarding-Serie die Einführung in digitale Barrierefreiheit. Zu zweit im Herbst 2022 gestartet, begleiten nun ein halbes Dutzend Kolleg:innen aus verschiedenen Disziplinen in abwechselnder Reihenfolge das verpflichtende Training.

Das einstündige Einführungsformat erklärt, was Barrierefreiheit ist, warum sie für uns beim DigitalService so wichtig ist und wie wir sie praktisch angehen. Die Teilnehmenden erhalten einen Überblick über die Gesetzesgrundlagen, Zahlen und Fakten zur gesellschaftlichen Relevanz sowie die vier Prinzipien der internationalen Web Content Accessibility Guidelines (WCAG). Die Prinzipien besagen, dass bei jedem Web-Angebot Wahrnehmbarkeit, Bedienbarkeit, Verständlichkeit und Robustheit gewährleistet sein müssen. Diese Prinzipien fungieren als vier Pfeiler für jedes Angebot im Internet. Bricht auch nur einer dieser Pfeiler ein, ist ein Angebot nicht mehr zugänglich. So kann ein Online-Dienst zwar wahrnehmbar sein, aber zugleich unverständlich oder unbedienbar. Dadurch wird er für einige Nutzende unzugänglich.

Ein Blatt mit einer Beschreibung für eine Nutzerin mit einer Sehbehinderung neben einer Pizzaschachtel und einem Laptop-Computer

Um sicherzustellen, dass alle vier Prinzipien und Dutzende mit ihnen verknüpfte Kriterien erfüllt sind, arbeiten wir beim DigitalService mit sogenannten Accessibility-Personas. Diese wurden von britischen Kolleg:innen des Government Digital Service entwickelt. Sie werden ebenfalls innerhalb des Einführungsformats vorgestellt. Die Personas sind archetypische Profile, die uns einen einfacheren Zugang zu bestimmten Behinderungen, Lebenssituationen und notwendigen unterstützenden Technologien verschaffen. Sie helfen uns, in strukturierter Weise entlang der internationalen WCAG-Prüfkriterien auf Barrierefreiheit zu testen. Jene waren auch Gegenstand des eingangs erwähnten EU-Prüfberichts und beschreiben detailliert, was eine Web-Anwendung technisch leisten muss. Die knapp 90 internationalen Prüfkriterien und ihre deutschen Ableger beschreiben etwa Farbkontraste von Elementen, Beschreibungen von Bildern oder erläutern, wie Timeout-Zähler funktionieren sollen.

In unserer Einführungsveranstaltung arbeiten wir mit den neuen Kolleg:innen heraus, wie alle Disziplinen beim DigitalService zu mehr Barrierefreiheit beitragen. Digital-Teams entwickeln möglichst barrierefreie Services. Doch ebenso wichtig ist die Arbeit unseres Legal-Teams, das den rechtlichen Rahmen übersetzt, oder des Kommunikations-Teams, das die Arbeitsfortschritte einfach zugänglich macht.

Durch eine kurze Übung mit vom britischen Innenministerium entwickelten Postern machen wir zudem die Relevanz von Barrierefreiheit in unserer alltäglichen Arbeit anfassbar. Diese Poster gehen auf Behinderungen wie Lese- oder Sehschwäche, motorische Einschränkungen und Autismus ein. Sie stellen gegenüber, was für betroffene Nutzende gut funktioniert und was nicht. Ferner stellen wir im Training den Bezug zum Servicestandard her, den wir bei unserer Arbeit befolgen und dessen Punkt 3 sich Barrierefreiheit widmet.

Zwei Personen mit langen Haaren schauen auf 8 kleine Poster zu Barrierefreiheit, die jeweils eine Reihe von 5 Dinge mit Richtig und Falsch überschrieben zeigen

Barrierefreiheit als Querschnittsaufgabe und Lernreise

Barrierefreiheit ist keine Sache, die nur von einer unserer Disziplinen innerhalb eines Projekts verantwortet werden kann. Die vier WCAG-Prinzipien berühren alle Aspekte eines Angebots – inklusive Programmcode, Textinhalte und Interaktionen – und somit auch alle im DigitalService-Projektteam.

Produktmanager:innen müssen Barrierefreiheit als kontinuierliches Qualitätskriterium in jedem Entwicklungszyklus betrachten. Designerin:innen sollten digitale Formulare mit robusten, etablierten und getesteten Komponenten konzipieren. User-Research-Kolleg:innen haben die Aufgabe sicherzustellen, dass auch Menschen mit Behinderungen regelmäßig die Prototypen testen. Die Software-Entwickler:innen können durch automatisierte Tests viele Fehler früher und schneller finden. Und Transformationsmanager:innen spielen eine tragende Rolle dabei, den Projektpartnern in den Ministerien die Wichtigkeit von Barrierefreiheit zu vermitteln – denn auch da ist noch Wissensaufbau nötig.

Alle Personen in unseren Teams haben ihren eigenen Zugang und einen anderen Kenntnisstand zu digitaler Barrierefreiheit. Über ein Drittel der Kolleg:innen interessiert sich aktiv fürs Themenfeld und folgt internen Meldungen dazu. Ein gutes Dutzend von ihnen nennen sich „Accessibility Ambassadors“. Sie sind Botschafter:innen für digitale Barrierefreiheit. In ihren Projektteams sind sie zudem thematische Ansprechpersonen. Über alle Disziplinen und Projekte hinweg bauen sie seit Herbst 2022 multidisziplinär Wissen und Erfahrung auf. Das dokumentieren sie intern und machen Gelerntes so allen zugänglich. Sie sammeln Fragen in kurzen Sprechstunden und veröffentlichen Ratgeber im Intranet. Zudem veranstalten sie disziplin- und kompetenzübergreifende Workshops, um das gesammelte Wissen zu verbreiten.

Ein seit nunmehr zwei Jahren beliebtes Format ist ein Test auf Barrierefreiheit. Wir nennen es den „Pizza-powered Accessibility Check“, weil Kolleg:innen dort mit einem Stück Pizza unsere Produkte checken. Die „Accessibility Ambassadors“ begleiten es. Projektteams, die gerade einen neuen Service entwickeln, können es nutzen, um Fehler ausfindig zu machen. Alle im DigitalService sind eingeladen, daran teilzunehmen. Durch die praktische Nutzung der erwähnten Persona-Profile kann die Erfahrung von Menschen mit Behinderung teils nachempfunden werden. So kommt beispielsweise während des Tests aus der Perspektive von Persona Claudia eine Software zum enormen Vergrößern von Inhalten zum Einsatz. Der Test hilft einerseits, neue Fehler zu finden, und andererseits, Empathie und neue Erkenntnisse aufzubauen.

Eine Person vor einem Laptop-Computer, auf dem eine stark vergrößerte Beschreibung einer Rechtsschutzversicherung zu sehen ist

Bevor ein neuer Online-Service live gehen kann, muss er zuvor einem formalen Test auf Barrierefreiheit unterzogen werden. Diese sind kostspielig und zeitaufwendig. Je mehr Fehler wir zuvor gefunden und adressiert haben, desto besser. Die ausführlichen Tests werden von externen Spezialist:innen durchgeführt. Dafür arbeiten wir mit Vereinen und Stiftungen zusammen, deren Mitarbeitende selbst Behinderungen haben. Dennoch sind Menschen mit Behinderung in unseren Teams deutlich unterrepräsentiert.

Uns ausschließlich an formalen Prüfkriterien und Checklisten abzuarbeiten, reicht nicht. Barrierefreiheit ist mehr als Compliance. Vor kurzem haben wir angefangen, mit Behindertenverbänden zu sprechen, um mittelfristig eine Anwender-Gruppe für regelmäßige Nutzungstests aufzubauen. Nur durch Tests mit Menschen mit Behinderungen können wir tatsächlich sicherstellen, dass beispielsweise die Verständlichkeit eines Angebots gewährleistet ist. Keine Checkliste kann das leisten.

Kontakte knüpfen, Wissen und Prozesse verstetigen

In den vergangenen Monaten suchten wir verstärkt den Austausch mit Fach-Kolleg:innen in anderen Teilen der Verwaltung und Vereinen. Wir besuchten Berlins Kompetenzstelle für digitale Barrierefreiheit, um mehr über ihre Arbeit zu erfahren. Und begrüßten das Team der Überwachungsstelle des Bundes für Barrierefreiheit von Informationstechnik bei uns, um von ihnen zu lernen und zu verstehen, wie wir zusammenarbeiten können. Zudem besuchten wir Meetups und teilten dort, wie wir beim DigitalService Bewusstsein schaffen, Fähigkeiten aufbauen und nun Prozesse aufsetzen.

In der NExT-Community zu nutzerzentriertem Design beschäftigten wir uns im Dezember 2023 mit klarer Sprache und verständlicher Verwaltung. Dort sprachen wir über unsere Arbeit an Justiz-Services in einfacher Sprache und erfuhren vom IT-Referat der Stadt München, wie sie Angebote in Leichter Sprache entwickeln, die von weitaus mehr als nur kognitiv eingeschränkten Menschen genutzt werden.

Da wir stark auf die Arbeit von internationalen Kolleg:innen aufsetzen, möchten wir etwas zurückgeben. Als das Accessibility-Team des britischen Arbeitsministeriums ein Poster mit Empfehlungen fürs bessere Gestalten für Nutzende mit Dyskalkulie und Rechenschwäche entwickelte, übersetzten wir es auf Deutsch.

Zum Global Accessibility Awareness Day, der Bewusstsein für digitalen Zugang und Inklusion schaffen soll, veröffentlichen wir das Tool „Wie viele Menschen?“. Es berechnet auf verfügbaren Datengrundlagen, wie viele Menschen einer Nutzergruppe bestimmte Behinderungen und Beeinträchtigungen haben. Das Anzeigen der anteiligen Nutzerbasis soll helfen, Digital-Verantwortlichen die Wichtigkeit der Arbeit an Barrierefreiheit zu verdeutlichen.

Poster an einer Betonsäule, das erklärt, wie man besser für Menschen mit Dyskalkulie and Rechenschwäche gestaltet mit je 6 richtigen und falschen Dinge gelistet

Unsere Reise zu vollständig barrierefreien digitalen Verwaltungsangeboten ist noch lang. In den vergangenen Jahren haben wir angefangen, die Fähigkeiten und Strukturen aufzubauen, um das Thema systematisch anzugehen. Wir haben engagierte Kolleg:innen sowie Alliierte aus anderen Organisationen gewonnen, die unsere Reisegefährten sind. Wie vielleicht in keinem anderen Themenfeld leben wir die Werte des DigitalService „Trau Dich zu lernen“ und „Beziehe vielfältige Perspektiven ein“ im besonderen Maß.

„Digitale Barrierefreiheit“ wird bei unserem nächsten NExT-Community-Treffen im Juni 2024 das Schwerpunktthema sein. Das Treffen ist für alle Mitarbeitenden aus dem öffentlichen Sektor offen. Wir freuen uns auf neue Gesichter und Perspektiven.


Porträtfoto der Autorin Marion Couesnon

Marion Couesnon

arbeitet seit Herbst 2023 als UX Designerin mit Schwerpunkt digitaler Barrierefreiheit beim DigitalService. Sie hat Grafik- und Media-Design in Frankreich und der Schweiz studiert und ist ausgebildete Accessibility-Spezialistin. Ihre Mission ist, Technologie inklusiver zu machen – wofür es ihrer Ansicht radikalen Wandel benötigt. Sie kocht, backt und fermentiert in ihrer Freizeit.

Portrait Foto des Autors Martin Jordan

Martin Jordan

arbeitet als Head of Design & User Research beim DigitalService. Zuvor war er für über sechs Jahre als Head of Service Design im Cabinet Office in London tätig. Dort trieb er beim Government Digital Service die digitale Transformation der britischen Verwaltung und ihrer Verwaltungsdienstleistungen voran. Auch verantwortete er den britischen Servicestandard und das GOV.UK Service Manual. Martin ist leidenschaftlicher Bahnreisender. In den vergangenen Monaten fuhr er mit dem Zug von Berlin nach Edinburgh in Schottland und Barcelona in Spanien. Als Nächstes stehen Schweden und Süditalien auf der Reiseroute.